WER ERLEBT TRAUMA?
Lassen Sie uns für einen Moment zu Freddie Gray zurückkehren, dem jungen Afro-Amerikaner, dessen Genick im Polizeigewahrsam der Polizei von Baltimore gebrochen wurde. In den Tagen und Wochen, die Grays Tod folgten, war es unmöglich, keine Parallelen zu ähnlichen Fällen zu ziehen. In jenem Sommer tauchten monatlich, manchmal sogar wöchentlich, neue Videos auf, die einem bewusst machten, wie unverhältnismäßig hoch das Risiko war, dass Schwarze durch die amerikanische Polizei verletzt oder sogar getötet wurden. Ein Beispiel war Eric Garner, ein 43-jähriger Afro-Amerikaner, der nach einem Zwischenfall mit der New Yorker Polizei starb. In einem Video, das mit einem Mobiltelefon von Garners Freund aufgenommen worden war, konnte man einen Zivilpolizisten sehen, der versuchte, Garner wegen des Verkaufs einzelner Zigaretten zu verhaften. „Jedes Mal, wenn ihr mich seht“, hört man Garner sagen, „ versucht ihr euch mit mir anzulegen. … Jedes Mal, wenn ihr mich seht, wollt ihr mich schikanieren.“46 Nachdem der Polizist ohne Erfolg versucht hatte, Garner Handschellen anzulegen, nahm er ihn in den Würgegriff und drückte schließlich sein Gesicht auf den Bürgersteig. „Ich bekomme keine Luft“, konnte man Garner einige Male sagen hören, bevor er das Bewusstsein verlor und auf dem Weg ins Krankenhaus starb.
Vorfälle wie dieser erinnern uns daran, dass der soziale Kontext ein Schlüsselfaktor ist, wenn es darum geht, wie stark man Stress und Gewalt ausgesetzt ist.47 Die Centers for Disease Control and Prevention berichten, dass bei schwarzen Menschen die Wahrscheinlichkeit viermal höher ist als bei weißen, bei einem Aufeinandertreffen mit Vollzugsbeamten ums Leben zu kommen.48 Während die Erfahrung von Polizeigewalt nur ein einzelnes Bespiel für Trauma ist, reflektiert sie doch ein weiterreichendes Muster von Gewalt in der Gesellschaft, die sich gezielt gegen bestimmte Gruppen von Menschen richtet. Schenkt man Garners Worten Glauben, so war er wohl wiederholt Ziel unerwünschter und ungerechtfertigter Aufmerksamkeit durch die Polizei.49
Ein zentraler Teil trauma-bedachter Arbeit besteht darin, den sozialen Kontext von Trauma zu verstehen. Einerseits kann man natürlich Statistiken zitieren, aber es ist etwas völlig anderes, ein Verständnis dafür zu entwickeln, in welchem Ausmaß unterdrückende Systeme die menschliche Erfahrung von Not beeinflussen. Einige von Ihnen mögen über Wissen aus erster Hand verfügen, durch Lebenserfahrung oder Studium. Andere – und da schließe ich mich mit ein – sind von Unterdrückung eher verschont geblieben. Uns wurden unverdiente Privilegien mit auf den Weg gegeben, die verhindern, dass wir die Auswirkungen von Unterdrückung und systemischem Trauma sehen und anerkennen. Wir wurden dahingehend konditioniert, Trauma als eine individuelle Tragödie zu sehen, statt es als etwas zu betrachten, das mit den größeren, dominierenden Systemen, die unsere Welt gestalten, eng verknüpft ist. Wir alle müssen uns über die Auswirkungen von Trauma weiterbilden, wobei diejenigen mit mehr Privilegien stärker in der Pflicht stehen.
Unsere Erfahrung von Naturkatastophen ist ebenfalls durch unseren sozialen Kontext geprägt. Ein schmerzhaftes Bespiel war die schreckliche Überflutung von New Orleans durch den Hurrikan Katrina. Die je nach ethnischer Zugehörigkeit unterschiedliche Erfahrung der Traumaüberlebenden war nicht zu leugnen: Afro-amerikanische Menschen, die vor der Flut geflüchtet waren, einige von ihnen in Rollstühlen oder mit Babys auf dem Arm, wurden von einer über ihre Köpfen feuernden Polizei wieder in die verseuchten Hochwassergebiete zurückgeschickt, um zu verhindern, dass sie sich in Gretna, einem mehrheitlich weißen Vorort, in Sicherheit bringen konnten. Sogar unsere Erfahrungen mit dem Wettergeschehen finden nicht im luftleeren Raum statt. Dies zu realisieren, hat nichts mit politischer Korrektheit zu tun. Es ist ein Weg, um Vertrauen, Sicherheit und Verantwortlichkeit über unsere verschiedenen Realitäten hinweg aufzubauen. Ohne diese Einsicht leben wir wortwörtlich in unterschiedlichen Welten und können keine Brücken zwischen unseren Realitäten schlagen.
Die Bedeutung des sozialen Kontextes wird besonders bei zwischenmenschlichem Trauma deutlich.50 Wenn Sie in den Vereinigten Staaten eine Frau sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von Ihrem Intimpartner gestalkt werden, viermal höher als bei einem Mann51, und die Wahrscheinlichkeit, dass Sie eine versuchte Vergewaltigung erleben, ist 14-mal höher52. Dieses Risiko erhöht sich für Frauen, die arm oder nicht-weißer Hautfarbe sind.53 Wenn Sie ein transsexueller Mann sind, ist die Wahrscheinlichkeit, sexuelle Gewalt erleben zu müssen, zehnmal höher als bei cisgender Männern, Männern also, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.54 Und wenn Sie mit einer Behinderung auf die Welt gekommen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal Opfer sexueller Gewalt zu werden, bei 80 Prozent. 40 Prozent der Menschen mit Behinderung erleben im Laufe ihres Lebens mehr als zehn Vorfälle sexuellen Missbrauchs.55
Rassismus erweitert Trauma um eine weitere Dimension. Amerikanische Ureinwohner leben mit einer zweimal höheren Wahrscheinlichkeit als jede andere Gruppe, Vergewaltigung oder sexuelle Übergriffe erleben zu müssen.56 Afro- und Hispano-Amerikaner sind nachweislich einer höheren Rate an Trauma ausgesetzt als Weiße57, wobei Faktoren wie Rassismus zu dieser Ungleichheit beitragen.58 Schichtzugehörigkeit und Einkommen haben ebenfalls Einfluss darauf, wie sehr wir Trauma ausgesetzt sind: In einem 2014 veröffentlichten Bericht der Weltgesundheitsorganisation wird beschrieben, dass „Menschen mit schwächerem ökonomischem Hintergrund höhere Todesraten durch lebensgefährliche und nicht-lebensgefährliche Verletzungen haben als wohlhabende Menschen“.59 Forscher haben diese Diskrepanz verschiedenen Faktoren zugeschrieben, unter anderem der Tatsache, dass Menschen mit geringen Einkommen gezwungen sind, unsichere Arbeitsverhältnisse aufzunehmen, weniger Zugang zu Notfallversorgung haben und sich in weiten Teilen der Welt die Kosten für Rehabilitation und den Verlust ihrer Einkünfte nicht leisten können.
Was ich versucht habe, hier klarzumachen, ist, dass Trauma sowohl weitverbreitet als auch politisch ist. Wir leben innerhalb sozialer und ökonomischer Strukturen, die einerseits entworfen wurden, um Respekt, Sicherheit und Perspektiven für einige Gruppen zu schaffen und gleichzeitig andere systematisch vernachlässigen. Dies ist ein „Power over“-Modell, das das Leben und die Perspektiven jedes Einzelnen von uns prägt, selbst wenn wir altruistisch gesinnt sind. Um traumasensitiv arbeiten zu können, muss jeder von uns sich innerlich und äußerlich dafür engagieren, sich dieser verschiedenen Systeme bewusst zu werden.
ZURÜCK INS KLASSENZIMMER
Lassen Sie uns zu RJ zurückkehren. Am Ende seiner Unterrichtsstunde kehrte RJ von der Toilette zurück, wo er versucht hatte, sich von seinen Flashbacks abzulenken. Als die Schüler den Klassenraum verließen, trat Marc, der Achtsamkeitslehrer, an RJ heran. Er fragte, ob RJ einige Minuten für ein Gespräch habe.
Mit dem Gefühl, dabei nichts verlieren zu können, öffnete sich RJ. Er sprach freimütig über den Tod seiner Schwester und auch über seine Erfahrungen während der Meditation. Marc war berührt, weil ihm nicht bewusst gewesen war, wie viel Schmerz RJ mit sich herumtrug. Er erzählte RJ, dass er selbst vor einigen Jahren ein Geschwister durch Krebs verloren hatte und dass ihm Achtsamkeit durch diese Phase geholfen hatte. Sie erlaubte ihm, mit seiner Trauer präsent zu sein, statt sie von sich wegzuschieben.
Nachdem er seine eigenen Erfahrungen mit RJ geteilt hatte, fragte Marc, ob RJ eine begleitete Meditation ausprobieren wolle. Er konnte nun verstehen, weshalb die Gruppenmeditation für ihn ein Trigger gewesen war und wollte RJ etwas anbieten, was ihm eine Hilfe dabei sein konnte, mit dem Schmerz umzugehen. RJ nickte, und Marc bat ihn, seine Augen zu schließen und zu berichten, was er wahrnahm. RJ sagte, er könne das Gesicht seiner Schwester sehen und dass er fühlen konnte, wie es ihm den Magen umdrehte. „Schau, ob du für diese beiden Empfindungen neugierig bleiben kannst“, sagte Marc. „Versuche sie mit Wohlwollen zu untersuchen und versuche zu atmen und dich zu entspannen.“
Nach einigen Minuten öffnete RJ abrupt die Augen. Er verspürte große Angst und sagte dies Marc. „Natürlich“, entgegnete Marc empathisch. „Es ist gut, dass du das bemerken kannst. Schau, ob du es zulassen kannst, dass die Angst da ist, ohne sie zu werten.“
RJ schloss seine Augen, aber eine Minute später öffnete er sie