Damit eine echte spirituelle Wandlung geschehen kann, müssen wir diese Neigung zu geistiger Selbstkasteiung ablegen. Spiritualität, die auf Selbsthaß basiert, kann keinen Bestand haben. Großzügigkeit, die aus Selbsthaß geschieht, wird zum Märtyrertum. Moral, aus Selbsthaß geboren, wird zu rigider Unterdrückung. Liebe zu anderen ohne das Fundament der Selbstliebe wird zum Grenzverlust, Ko-Abhängigkeit und einer ebenso schmerzhaften wie fruchtlosen Suche nach Nähe. Nehmen wir aber durch Meditation Verbindung auf zu unserer wahren Natur, dann können wir zulassen, daß auch andere Lebewesen ihre wahre Natur finden.
Häufig fungieren wir im Leben als Spiegel füreinander. Wir betrachten andere, um zu erfahren, ob wir liebenswert sind; wir betrachten andere, um herauszufinden, ob wir lieben können; wir betrachten andere, um einen Widerschein unseres inneren Leuchtens zu finden. Es ist ein ungeheures Geschenk, einem Menschen das Wissen um seine eigene Liebenswürdigkeit zurückzugeben! Wenn wir das Gute in anderen sehen, ermöglichen wir ihnen, „aus sich selbst zu blühen, aus innerem Glück“.
Das Gute in einem Menschen zu sehen heißt nicht, seine schwierigen Seiten oder sein schädigendes Verhalten zu ignorieren. Doch wir können diese Aspekte uneingeschränkt zur Kenntnis nehmen und trotzdem beschließen, uns auf das Positive zu konzentrieren. Konzentrieren wir uns auf das Negative, spüren wir selbstverständlich Wut, Groll oder Enttäuschung. Konzentrieren wir uns auf das Positive, entsteht in uns eine Verbindung zu diesem Menschen. Betrachten wir dann seine negativen Charakterzüge oder Verhaltensweisen, tun wir es als Freund. Und wenn zwei Freunde solch schwierige Dinge betrachten, stehen sie dabei Seite an Seite.
Dieses Spiegeln, mit dem wir „ein Ding seine Liebenswürdigkeit neu lehren“, gehört zu den wichtigsten Eigenschaften von metta. Ihre Kraft ermöglicht es uns, einen Menschen anzuschauen und die Berechtigung seines Wunsches nach Glück ebenso zu bekräftigen wie unser Einssein mit ihm. Die Kraft der Liebe eröffnet uns selbst ebenso wie den anderen die zahlreichen Möglichkeiten eines jeden Augenblicks.
Ich hörte einmal einen jungen Mann über seine Kindheit in Kambodscha sprechen. Alle Kinder seines Dorfes lebten jahrelang als Gefangene in einem stacheldrahtumzäunten Lager. Viermal am Tag führte man Menschen an den Rand des Lagers und tötete sie. Die Kinder wurden in einer Reihe aufgestellt und mußten zusehen. Jedes Kind, das zu weinen anfing, wurde ebenfalls getötet. Der Junge erzählte, wenn die Menschen gebracht wurden, die getötet werden sollten, sei er jedesmal völlig außer sich vor Angst gewesen, daß ein Freund, Nachbar oder Verwandter dabei sein könnte. Er wußte, daß er dann weinen und selbst sterben würde. Jahrelang lebte er mit dieser furchtbaren Angst, und er sagte, unter diesen Umständen habe seine einzige Überlebensmöglichkeit darin bestanden, alle Gefühle abzuschneiden und sich selbst damit völlig zu entmenschlichen.
Nach vielen Jahren veränderte sich die politische Situation in Kambodscha, der Junge wurde von einer amerikanischen Familie adoptiert und kam in die Vereinigten Staaten. Er war damals an einem Punkt in seinem Leben, wo er wußte, daß er nur überleben würde, wenn er wieder lieben lernte, wenn er die Wände einreißen würde, die er hatte aufrichten müssen. Der junge Mann berichtete, er habe wieder lieben gelernt, als er in den Augen seines Pflegevaters so viel Liebe zu ihm, dem Jungen, sah. Im Spiegel dieser Liebe habe er erkannt, daß er tatsächlich liebenswert sei und daher auch selbst Liebe geben konnte.
Menschen anzuschauen und ihnen das Gefühl zu geben, daß sie geliebt werden und auch selbst lieben können, bedeutet, ihnen ein ungeheures Geschenk zu machen. Es ist auch ein Geschenk an uns selbst.
Wir erkennen, daß wir eins sind mit dem, woraus Leben besteht. Dies ist die Kraft von metta: Sie lehrt uns und die Welt diese innewohnende Liebenswürdigkeit.
Metta bringt alle Lebewesen zusammen. Die buddhistische Lehre sieht metta als Bindemittel des Bewußtseins. Wenn ein Mensch sich ärgert, ist sein Herz trocken. Wenn er Liebe empfindet, wird es feucht. Fügen wir in der Natur zwei trockene Substanzen zusammen, fehlt ihnen die Möglichkeit, sich fest miteinander zu verbinden – erst wenn wir Feuchtigkeit hinzufügen, können sie zusammenkommen. Auf genau diese Weise kommen wir durch die Kraft von mettã, der Liebenden Güte, zusammen. Wir können uns mit uns selbst und allen Lebewesen verbinden. Die Schönheit dieser Wahrheit veranlaßte den Buddha zu der Äußerung, die Pflege eines liebenden Herzens, und sei es nur für die Dauer eines Fingerschnalzens, mache einen Menschen zu einem wahrhaft spirituellen Wesen.
Übung: Bedenken Sie das Gute in sich
Sitzen Sie bequem, entspannt, schließen Sie die Augen. Analysieren und erwarten Sie so wenig wie möglich. Denken Sie zehn bis fünfzehn Minuten lang an etwas Freundliches oder Gutes, das Sie gesagt oder getan haben – eine Gelegenheit, bei der Sie großzügig waren, fürsorglich oder zum Wohlbefinden eines Menschen beigetragen haben. Falls Ihnen etwas einfällt, lassen Sie das Gefühl von Glück zu, das vielleicht mit der Erinnerung einhergeht. Sollte Ihnen nichts einfallen, wenden Sie Ihre Aufmerksamkeit einer Eigenschaft zu, die Sie an sich selbst schätzen. Haben Sie eine Fähigkeit oder Stärke, die Sie mögen? Sollte Ihnen noch nichts einfallen, denken Sie an Ihren tiefen Wunsch nach Glück und daran, daß er richtig und schön ist.
Seien Sie nicht entmutigt oder ängstlich, selbst wenn Sie bei diesen Überlegungen Ungeduld, Ärger oder Angst spüren sollten – versuchen Sie, ohne Schuldgefühle oder Selbstverurteilung zur Meditation zurückzukehren. Im Zentrum der Meditation steht die Fähigkeit, loszulassen und von vorn zu beginnen, immer und immer wieder. Selbst wenn Sie das während einer Sitzung mehrere tausend Male machen müßten, es spielt keine Rolle. Um unsere Aufmerksamkeit zu sammeln, müssen wir keine Entfernungen zurücklegen; wenn wir bemerken, daß unsere Gedanken abgeschweift sind oder wir die Verbindung zu unserem gewählten Meditationsgegenstand verloren haben, können wir im gleichen Moment von vorn beginnen. Nichts wurde zerstört, es gibt kein Scheitern. Wohin die Aufmerksamkeit auch gewandert sein mag, wie lange die Ablenkung gedauert haben mag, wir können alles binnen eines Augenblicks loslassen und von vorn beginnen.
Übung: Sätze der Liebenden Güte
Wenn wir metta praktizieren, wiederholen wir Sätze, die benennen, was wir uns wünschen, erst für uns und dann für andere. Wir beginnen, indem wir Freundschaft mit uns schließen. Die Hoffnungen, die wir formulieren, sollten tief empfunden sein und einiges Gewicht haben (also keine Wünsche wie „Möge ich eine gute Fernsehsendung finden“). Meistens werden die folgenden vier Sätze benutzt:
Möge ich frei sein von Gefahr.
Möge ich glücklich sein.
Möge ich körperlich gesund sein.
Möge ich leicht durchs Leben gehen.
Ich werde diese vier Sätze einzeln betrachten, und Sie können mit ihnen experimentieren, sie verändern oder eine andere Kombination von drei oder vier Sätzen wählen.
„Möge ich frei sein von Gefahr.“ Zu Beginn richten wir Fürsorge und Liebende Güte auf uns selbst und wünschen uns, daß wir Sicherheit und Freiheit von Gefahr erfahren mögen. Dann wünschen wir, daß alle Lebewesen und wir selbst ein Gefühl von Heimat haben, einen sicheren Hafen, Freiheit von innerer Not und äußerer Gewalt.
Ein Leben ohne Sicherheit gleicht einem Alptraum. Wenn wir immer wieder bedingte Zustände wie Zorn oder Gier erleben, wenn wir ständig verletzt werden und andere verletzen – dann gibt es weder Frieden noch Sicherheit. Wenn Angst, Schuldgefühle und Aufregung uns nachts wach halten – dann gibt es weder Frieden noch Sicherheit. Wenn wir in einer Welt der offenen Gewalt leben, die auf der Entrechtung von Menschen sowie auf der Einsamkeit eines verschwiegenen und zum Schweigen gebrachten Mißbrauchs beruht – dann gibt es weder Frieden noch Sicherheit. Daher beginnt die metta-Meditation mit dieser tief empfundenen Hoffnung:
„Möge ich frei sein von Gefahr.“ Andere mögliche Sätze sind „Möge ich in Sicherheit sein“ oder „Möge ich ohne Angst sein“.
„Möge ich glücklich sein.“ Sähen