In einem Brief an ihre Freundin Monna Alessa dei Saracini schrieb die Gelehrte und Mystikerin Katharina von Siena im 14. Jahrhundert:
Errichte zwei Häuser für dich selbst, meine Tochter. Ein tatsächliches Zuhause in deiner Zelle, um nicht an vielen Orten umherlaufen zu müssen, es sei denn, dies sei notwendig oder aus Gehorsam gegenüber der Priorin oder um der Nächstenliebe willen; und ein anderes geistiges Zuhause, das du immer bei dir tragen solltest – die Zelle der wahren Selbsterkenntnis, in der du in dir selbst Einsicht in die Güte Gottes finden wirst.
Die »Kreatur, verborgen in ihrer Zelle« muss keine Nonne sein, die in einem Kloster meditiert. Es könnte jeder sein, der sich in einer geschäftigen, lauten Stadt isoliert und allein fühlt. Doch jeder dieser einsamen, von geheimen Ängsten heimgesuchten und paralysierten Menschen wäre für den Autor der Vier Achter »weit, weit entfernt davon, mit sich allein in Frieden zu sein«.
Mit sich allein sein bedeutet mehr als einfach nur allein sein. Wahres Mit-sich-Alleinsein ist eine Weise zu sein, die der Kultivierung bedarf. Man kann sie nicht nach Belieben ein- und ausschalten. Mit-sich-Alleinsein ist eine Kunst. Man benötigt Geistesschulung, um sie zu verfeinern und zu stabilisieren. Wenn man Mit-sich-Alleinsein praktiziert, gibt man sich der Pflege der Seele hin.
Für diejenigen, die Religion zugunsten eines säkularen Humanismus verworfen haben, kann der Begriff des Mit-sich-Alleinseins Genusssucht, Nabelschau oder Solipsismus implizieren. Manche mögen sich vom Mit-sich-Alleinsein als Weg angezogen fühlen, weil sie meinen, sich so der Verantwortung entziehen und Beziehungen vermeiden zu können. Aber für viele bietet Mit-sich-Alleinsein die Zeit und den Raum, um die nötige innere Ruhe und Autonomie zu entwickeln, sich wirkungsvoll und kreativ mit der Welt auseinanderzusetzen. Momente der stillen Kontemplation, sei es vor einem Kunstwerk oder während man den eigenen Atem beobachtet, ermöglichen es uns, zu überdenken, worum es uns im eigenen Leben geht, und darüber nachzusinnen, was für uns am wichtigsten ist. Mit-sich-Alleinsein ist kein Luxus für die wenigen, die Muße haben. Es ist eine Dimension des Menschseins, der wir nicht entrinnen können. Ob wir nun eifrige Gläubige oder eifrige Atheistinnen sind, im Mit-sich-Alleinsein begegnen wir den gleichen existenziellen Fragen und untersuchen sie.
Meine Berichte in diesem Buch über die Einnahme von Psychedelika bei schamanischen Zeremonien sollten nicht als pauschale Befürwortung ihrer Verwendung verstanden werden. Ich beschreibe eine in meiner persönlichen und kulturellen Geschichte verwurzelte Reise. Sie mag für Leserinnen und Leser von Belang sein oder auch nicht. Die meisten Buddhistinnen und Buddhisten werden die Einnahme von Peyote und Ayahuasca wohl als Verletzung der Ethikregel bezüglich den Geist berauschender Mittel ansehen und somit als mit der Dharma-Praxis unvereinbar. Beim Schreiben von Die Kunst, mit sich allein zu sein ist es eines meiner Hauptanliegen gewesen, einen konstruktiveren Weg zu finden, über das umstrittene Thema Drogen in unserer gehörig unter Medikamenteneinfluss stehenden Gesellschaft zu sprechen. Wie die aktuelle Opioid-Epidemie in den Vereinigten Staaten verdeutlicht, mühen sich sowohl weltliche als auch religiöse Institutionen damit ab, Wege zu finden, um klug und mitfühlend auf diese Krise zu reagieren. Statt eine Reaktion auf die binäre Opposition zwischen Genuss (schlecht) und Abstinenz (gut) zu stützen, benötigen wir ein fundierteres und differenzierteres Verständnis, wie man Substanzen nutzt, die das menschliche Bewusstsein, Empfinden und Verhalten verändern. Indem ich die Anwendung von Psychedelika in die Praxis des Mitsich-Alleinseins einbeziehe, möchte ich sie in einen breiteren kulturellen Diskurs integrieren, der Meditation, Therapie, Philosophie, Religion und Kunst umfasst.
Dieses Buch ist aus meinen Wanderungen, Erkundungen und Studien heraus erwachsen; seine Struktur wurde jedoch durch meine zwanzigjährige Praxis, Collagen aus gefundenen Materialien herzustellen, geformt. Wohin ich auch gehe, ich sammle weggeworfene Papier-, Stoff- und Plastikreste, die ich auf Karton klebe, dann zerschneide und zu quadratischen Mosaiken anordne. Dieser Prozess verwandelt zufällig gefundene Müllfetzen in Kunstwerke, die nach vorher festgelegten, formalen Regeln strukturiert sind, und macht jede Collage zu einer Kombination aus Zufall und Ordnung. Die Kunst, mit sich allein zu sein wurde auf ähnliche Weise konzipiert und ausgearbeitet. Beim Schreiben habe ich sowohl die strenge metrische Struktur der Vier Achter als auch die chaotische Organisation von Montaignes Essais berücksichtigt, die beide die Form dieses Buches inspiriert haben.
Montaigne beobachtete, dass sich in der Malerei »manchmal das Werk aus der Hand des Malers losreißt, seine Vorstellungskraft und sein Verständnis überflügelt, ihn staunen lässt und tief bewegt«. Die Anmut und die Schönheit solcher Werke werden »nicht nur ohne die Absicht des Künstlers, sondern auch ohne sein Wissen« erreicht. In gleicher Weise »findet ein aufmerksamer Leser oftmals in den Schriften anderer noch weitere Schätze als diejenigen, die dort vom Autor platziert oder auch nur von ihm bemerkt wurden, und verleiht so diesen Texten einen reicheren Bedeutungsgehalt und Charakter«. Indem ich dieses Buch in Form einer Collage verfasste, habe ich versucht, meine schriftstellerische Einflussnahme zu dämpfen und so den Text zu befreien, damit er seine eigene Stimme findet.
Meine Collagen sind Übungsstücke in Komposition und Differenzierung. Während der Entfaltung dieses Prozesses hat mich die Frage in ihren Bann gezogen, wie unterschiedliche Dinge zusammenpassen. Eines meiner Leitprinzipien ist das des Nichtangrenzens. Es bedeutet, dass in der endgültigen Komposition keine zwei Stücke, die ich aus demselben Material ausgeschnitten habe, nebeneinander liegen dürfen. So ist sichergestellt, dass jedes Stück der Collage sich maximal von den es umgebenden Stücken unterscheidet. Dies ermöglicht jedem einzelnen Stück, sich in seinem eigenen »Fürsichsein« deutlich von der Matrix abzuheben, deren integraler Bestandteil es zugleich ist. Das gleiche Prinzip habe ich beim Schreiben dieses Buches angewandt. Keines seiner 32 Kapitel ist einem anderen vorangestellt oder folgt auf eines, das dasselbe Thema behandelt. Und da die Reihenfolge der Kapitel teilweise durch das Zufallsprinzip festgelegt wurde, bedeutete dies, dass ich beim Schreiben eines bestimmten Kapitels keine Ahnung hatte, welches andere Kapitel ihm in der endgültigen Fassung vorausgehen oder nachfolgen würde. Jedes Kapitel musste ich daher als eigenständigen Beitrag schreiben. Indem ich auf jede logische oder erzählerische Kontinuität zwischen den aufeinanderfolgenden Kapiteln verzichte, lasse ich zu, dass die grundverschiedenen Motive und Themenbereiche des Buches in überraschender und erhellender Weise aufeinanderprallen.
Dieses Projekt hat mich zu meinen Anfängen als Autor zurückgeführt. Mein erstes Buch, das 1983 erschien, trug den Titel Alone with Others: An Existential Approach to Buddhism [Mit anderen allein. Eine existentialistische Annäherung an den Buddhismus]. Wie ich es damals ausdrückte, war ich fasziniert von dem Paradoxon, »immer unausweichlich allein und gleichzeitig unausweichlich zusammen mit anderen zu sein«. Ich erkenne jetzt, dass eine vergleichbare ästhetische Spannung meine Collagenarbeit geprägt hat. Sich auf die westliche Phänomenologie und den Existenzialismus stützend, vermittelte Mit anderen allein ein buddhistisches Verständnis menschlicher Erfüllung (»Erwachen«) durch die Verknüpfung von Weisheit (allein) und Mitgefühl (mit anderen). Mein Interesse am Mit-sich-Alleinsein ist immer noch von dem gleichen Wunsch getrieben, dieses grundlegende Paradoxon menschlicher Existenz zu verstehen.
Während dieses Buch – manchmal explizit, manchmal implizit – die innere Geschichte meines eigenen Ringens mit dem Buddhismus erzählt und obwohl ich weiterhin auf Quellen und Motive aus jener Tradition zurückgreife, betrachte ich Die Kunst, mit sich allein zu sein nicht als ein buddhistisches Buch. Ich bin nicht daran interessiert, eine buddhistische Interpretation des Mit-sich-Alleinseins zu präsentieren. Ich möchte mit Ihnen teilen, was Praktizierende des Mit-sich-Alleinseins mit unterschiedlichen Hintergründen und aus unterschiedlichen Fachgebieten und Traditionen über ihre konkrete Praxis zu berichten haben.
Sechzig zu werden bedeutet für die Chinesen, fünf Zwölfjahreszyklen des Tierkreises abgeschlossen zu haben. Jedes weitere Lebensjahr wird als Bonus, als Geschenk, betrachtet. In Korea lockern sich die strengen Verhaltensregeln der konfuzianischen Gesellschaft mit sechzig. Oft begegnet man Seniorengruppen,