Ich hasse es, wenn mein Opa immer Mutter sagt, egal ob er seine Frau, seine Tochter oder seine wirkliche Mutter meint. Er sieht da keinen relevanten Unterschied. Er gehört eben zu jener Sorte Paschas, die sich bis ins hohe Alter bemuttern lassen wollen. Egal von wem.
„Ach ja, wenn es dir nichts ausmacht: Kannst du mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank bringen?“
„Meinetwegen. Aber trink nicht zu viel. Denk an deine Medikamente!“
„Ja, ja! Alkohol wirkt auch blutverdünnend. Hast du gehört?“
„Hab ich. Du solltest aufpassen, dass deine restlichen Hirnzellen vom Alk nicht verdünnt werden!“
Opa knurrt wie eine in den Arsch getretene Bulldogge und sieht mich abgrundtief verachtend an. Wenn Blicke töten könnten, hätte ich wohl kaum die nächsten Minuten überlebt.
Ich stelle die Dose auf das hölzerne Salontischchen mit den eingelassenen beigefarbenen Fliesen, mit irgendwelchen japanischen Schriftzeichen im Zentrum der Tischplatte. Frühe Siebzigerjahre, wie fast alles in unserem Wohnzimmer. Dunkelbrauner Spannteppich mit mintgrünen Streifchen, unter der Tür abgewetzt und Wellen werfend. Unter dem Tischchen ein kleiner bunter Teppich, billiges Perserimitat aus Otto’s, an den Wänden eine kleine Kommode mit verstaubten Nippes, eine unförmige Vitrine, die vermutlich schon seit sieben Generationen weitervererbt wurde, weil sich bis anhin keiner getraut hat, das hässliche Ding endlich einmal dem Sperrmüll mitzugeben. Aber bestimmt war das Teil schon zugegen, als meine Vorfahren noch Bauern waren, und beinhaltet nun die Glotze – einen Philips-Röhrenbildschirm – und Mamas Hausbar, nichts Besonderes, nur billigen Fusel aus dem Aldi, aber von drüben, weil auf der anderen Seite der Sprit noch ne Runde billiger zu haben ist als in den gleichnamigen Läden hierzulande. Neben dem Fenster ist ein schmales Regal aus schwarzen Stahlrohren und höhenverstellbaren Holztablaren, darauf ein paar ausgeblichene Familienfotos und jede Menge verstaubte Bücher, so etwas wie Intellekt suggerierend, jedoch bei näherer Beschau nur Bildbände, über die Schweiz, über den Heimatkanton, über unsere Stadt, wie sie vor hundert Jahren aussah, ein Kochbuch für die gutbürgerliche Küche, die wir nie hatten, ein Riesenwälzer mit deutschen Volksmärchen und einige Jahrgänge mit Sammelbänden aus dem Hause Das Beste. Alles harmloses Zeug eben. Das Proletariat unterhält sich mit Musikantenstadel und Dschungelcamp. Werke von Ernest Hemingway, Leo Tolstoi oder Marcel Proust sind für sie unerreichbare Welten. Namen mit derselben Bedeutung wie etwa spanische Bahnhöfe.
„Hast du noch ein Bierglas für mich?“
„Wozu denn das?“
„Einfach so.“
„Machst du neuerdings auf Culture?“
„Blödsinn, ich habe einfach Lust auf ein Bier aus dem Glas.“
Ich zucke die Schultern, aber besorge ihm das Glas und stelle es neben die Dose. Wortlos dreh ich mich weg und begebe mich nach oben auf mein Zimmer. Ich werfe die Sweatshirt-Jacke über die Stuhllehne, streife die Pumas von den Füßen, ohne die Schnürsenkel zu öffnen, und lege mich aufs Bett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Ich denke nach.
Das Mädchen vom Kiosk. Wie mag es wohl heißen? Ich schließe die Augen. Eigentlich bin ich müde, aber ich kann keine Ruhe finden. Da ist es wieder. Das Kribbeln im Bauch. Nervös setze ich mich auf die Bettkante, nehme mein Handy und öffne die Seite Anrufe in Abwesenheit. Sie ist leer. Ich habe auch nichts anderes erwartet. Dennoch bin ich ein wenig enttäuscht. Ich öffne den Speicher und wähle Charlys Nummer. Ich muss es etliche Male summen lassen, bis mein Freund endlich rangeht.
„Hallo!“, krächzt es aus dem Handy.
„Hi, Kumpel! Ich bin’s, Oliver. Hast du Lust auf nen Drink?“
„Hi, Olli! Ja, schon, warum nicht? Aber ich habe noch in der Bude zu tun. Bei mir wird es später werden“, meldet sich Charly. Er ist der Einzige, der mich mit einem Kürzel ansprechen darf. Ansonsten hasse ich diese meist doofen Verkleinerungsformen.
„Kein Problem!“, sage ich. „Bei der Gelegenheit schaue ich noch schnell bei euch rein. Dann können wir noch wo hingehen, wenn du den Laden dichtmachst.“
„Okay, dann bis nachher!“, antwortet er. Ich drücke die rote Hörertaste und stecke das Handy weg.
Ich hole meine Sporttasche aus dem Schrank, schmeiße die Indoorschuhe und ein paar gebrauchte Sportklamotten sowie Duschzeug hinein, ziehe meine Sachen wieder an und hänge die Tasche mit dem Tragriemen über die Schulter. Dann verlasse ich das Haus und mache mich auf zur Bushaltestelle.
Das Studio RUEDIS POWER befindet sich am Rande der Altstadt in einer baufälligen Gewerbeliegenschaft, die den Anschein macht, als würden demnächst die Bagger auffahren, um Platz zu schaffen für eine zeitgemäße Überbauung mit Büros und Dienstleistungsunternehmen.
Als ich in die Gasse gelange, in der das Studio liegt, setzt leichter Nieselregen ein. Ich schlage angeekelt die Kapuze meiner Jacke über den Kopf. „Scheißwetter!“, gebe ich resigniert von mir. Ich eile an einer Zeile mit heruntergekommenen Fassaden und blinden Fenstern vorbei, wo irgend so ein Realo God was never on your side hingesprayt hat. Wenig später erreiche ich den Haupteingang zum Gewerbehaus.
Im Erdgeschoss befindet sich eine Reparaturwerkstätte für Mofas und Fahrräder, mit dem vielsagenden Firmennamen A – Z. Der Inhaber, Herr Albert Zipsin, ein kleiner kauziger Typ mit Vollglatze, der schon bald eine Sechzig auf dem Rücken tragen wird, betreibt hier ein Ein-Mann-Unternehmen. Hauptsächlich der Kohle wegen, da er sich einen vorzeitigen Eintritt in den Ruhestand nicht leisten könne, gibt er unumwunden zu, wohl aber auch, um seiner Lebenspartnerin, einer gewissen Ingrid Wullimann, nicht allzu sehr auf den Keks zu gehen.
Die beiden haben sich auf irgend so einer Tanzveranstaltung des evangelischen Frauenbundes kennengelernt. Ingrid ist eine resolute Frau und alles andere als ein sensibles Hausmütterchen. Sie macht einen intelligenten und gebildeten Eindruck, und – so hat es mir Albert freudestrahlend einmal erklärt – sie nutzt ihren Tag für Besseres als nur Fernsehen und Kuchenbacken.
Obwohl sie gut einen Kopf größer als Albert und bestimmt zweimal so breit ist, scheinen sie wie füreinander geschaffen. Nach Möglichkeit bestreiten sie ihre Unternehmungen wie Urlaub, Kino, Theater und dergleichen zusammen. Ihre gemeinsame Wohnung liegt direkt über seinem Arbeitsplatz, allerdings im zweiten Stock. Da kann es durchaus von Vorteil sein, nicht nur ein eigenes Zimmer als Rückzugsmöglichkeit zu haben, sondern auch eine zwar veraltete, aber immer noch brauchbare Werkstatt, ein privates Refugium, einen heiligen Ort der Zuflucht und der Inspiration.
Denn eines weiß Albert Zipsin mit Sicherheit: Auf keinen Fall will er so enden wie die meisten seiner Kneipenkollegen, verstockt, mürrisch und stets unzufrieden mit sich und der Umwelt, und am Stammtisch nur ein Thema kennen, das vor allen anderen Themen punkto Wichtigkeit stets die Bestsellerliste anführt. Nämlich die eigenen kleineren und größeren Gebresten, die Unfähigkeit der Therapeuten und die der Ärzte sowieso.
Nein, er will sich, so lange es seine Gesundheit zulässt, nützlich in die Gesellschaft einbringen, und sein privates Biotop der Mechanik hilft ihm dabei, mit der schmuddelig-schummrigen Atmosphäre, dem chaotisch-kreativen Durcheinander von angerosteten Auspufftöpfen, Schutzblechen, fettstarren Fahrradketten, penetrant nach Kautschuk riechenden Luftschläuchen, verstaubten Pneus und mit dem allgegenwärtigen Geruch von Schmieröl und Zweitaktbenzin.
Ich kenne die urtümliche