Gefangen im Gezeitenstrom. Robert S. Bolli. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert S. Bolli
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Короткие любовные романы
Год издания: 0
isbn: 9783960087960
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sondern auch heil über die Runden zu bringen.

      In der linken Hand hielt Mum ein gespültes Trinkglas, in der rechten das Küchentuch zum Trockenreiben.

      „Na, wie war dein Tag?“, wollte sie noch anhängen, ließ es aber bleiben, als sie erkannte, dass ich eben nicht gerade gut drauf war. Sie legte Glas und Tuch beiseite und hätte mich wohl in die Arme genommen. Ich jedoch sperrte mich dagegen, da ich sowieso der Meinung war, ich sei zu alt für solche Kinkerlitzchen. Stattdessen fragte sie: „Hattest du Ärger in der Schule? Nun sag doch, war es wieder dieser Ausländerjunge aus dem anderen Schulhaus?“

      „Nein! Es ist alles bestens“, versuchte ich mich herauszureden, obwohl es mir gleichzeitig heiß und kalt den Rücken hinunterlief und mein Gesicht vermutlich die Farbe von gewässertem Käse hatte. „Wir hatten einen Mathetest. Ich glaub, ich hab ihn total verbockt“, erklärte ich, was nicht einmal gelogen war.

      Mum sah, dass ich ihr die volle Wahrheit verschwieg. Trotzdem verzichtete sie darauf, mich mit weiteren Fragen zu löchern, zuckte lediglich teilnahmslos die Schultern und nahm erneut die Beschäftigung mit den Trinkgläsern auf. Sie wusste, ich würde mich nur noch mehr zurückziehen.

      „Wenn dich dieser Kanake bedroht, dann sag es uns. Dann gehen wir zur Polizei und erstatten Meldung. So was lassen wir uns nicht bieten – niemals! Schon gar nicht, so lange wir hier in unserem eigenen Land leben. Wir sind freie Bürger und lassen unsere Zukunft nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Fremden vermiesen!“, meldete sich nun der Opa aus seinem Fernsehsessel. Er hatte eigens, um dieses Statement abzugeben, das Gerät leiser gestellt, was sonst selten genug vorkam.

      „Nein, ist es nicht! Ich fühle mich großartig. Und überhaupt, was willst du denen sagen? Dass sie nach einem großen Jungen mit kurzen schwarzen Haaren und schwarzer Lederjacke, der eben nicht aus unserer Schule stammt, fahnden sollen? Dann könnten sie gleich die ganze Bahnhofstraße räumen“, warf ich voller Sarkasmus in die Runde.

      „Nein, Oliver! So geht das nicht. Dein Opa hat ganz recht.“ Mum trat aus der Küche. Auf einmal hatte sie sich eine besorgte Mimik aufgesetzt. „Wenn dich jemand angegriffen hat, sollten wir Anzeige erstatten, allenfalls gegen Unbekannt – schon wegen der Versicherung.“

      „Ach, ihr könnt mich mal! Ihr glaubt immer noch, jeden Bullshit mit einer Versicherung abdecken zu können. Wenn es eine Versicherung gegen Ungerechtigkeit gäbe, wäre die Prämie unbezahlbar!“

      Ich war außer mir. Mein Puls raste. Einerseits schwang mein Tourenmesser über die Höchstmarke hinaus, andererseits war ich auch von meinen Alten enttäuscht. Ich ahnte, von ihnen konnte ich diesbezüglich keine nennenswerte Hilfe erwarten. Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, begab ich mich die Treppe nach oben und verschwand in mein Zimmer. Ich warf meinen Schulsack in die eine Ecke und die Sweatshirtjacke in die andere, dann ließ ich mich, laut ausatmend, rücklings aufs Bett fallen. Ich schloss die Augen zum Relaxen, aber nun kam der ganze Bockmist wieder hoch. Der arme Dennis mit seiner zertrümmerten Nase, und überall das viele Blut. Ich würde schweigen müssen, wenn sie kamen, mich als Zeugen zu befragen. Der schlechte Atem des Schurken drang in mein Bewusstsein und Übelkeit stieg in mir hoch. Seine Drohung ließ mir keine andere Wahl: Entweder ich ließ die Sache auf sich beruhen oder ich sagte gegen den Häuptling aus. Aber dann hätte ich keine ruhige Minute mehr in meinem Leben gehabt. Die Gang hatte genügend Mitglieder, die sich sehr gerne um Verräter gekümmert hätten.

      Mein Magen begann sich erneut zu verkrampfen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und schon gar nicht, wem ich mich anvertrauen konnte. Am liebsten hätte ich den ganzen Bullshit mit Dennis ignoriert. Einfach ausgeblendet und vergessen. Jedoch ahnte ich, dass das Erlebte sich bereits zu tief in meine Psyche hineingefressen hatte.

      Es gibt solche Situationen im Leben von der Dauer eines Augenblickes. Aber wie lange dauert ein Augenblick? Eine Sekunde? Sekundenbruchteile? Vielleicht eine Hundertstel- oder nur eine Millisekunde? Jedenfalls genügend lang, um eine Synapse zwischen Neuronen herzustellen. Eine Datenleitung im Gehirn für den Austausch von Informationen. Und schlagartig wird einem klar, dass es kein Zurück gibt. Nicht die geringste Chance, um etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Um eine negative Sache zu einem positiven Abschluss zu bringen, gibt es nur einen Weg.

      Ich fühlte mich wie ein riesengroßes Arschloch. Ich hätte Dennis helfen müssen. Irgendwie. Ihm wenigstens beistehen, ihn trösten müssen. Stattdessen hätte ich ebenso gut weggucken können. Ich fühlte mich elend und beschissen. Ich hatte versagt. Ich stand auf, steckte mir eine Chesterfield zwischen die Lippen und zündete sie an. Dann nahm ich den Kopfhörer meines bescheidenen Soundsystems, legte eine Slash-CD ins Fach, drückte auf „Play“ und ließ mich erneut aufs Bett sinken. Ich war einfach nur noch müde.

       Spit in the face of the ugly clown

       Who’ll hunt you down

       But you can’t hide

       Exterminate the future

      Tief zog ich den Rauch in die Lunge und blies ihn langsam durch die Nase wieder aus, während satte Beats durch meine Gehörgänge dröhnten.

       Kill the ghost

       That hides in your soul

      Ich nahm mir vor, Dennis wenigstens mal im Krankenhaus zu besuchen.

      Die Polizei tauchte erwartungsgemäß am folgenden Morgen in der Schule auf, in Form zweier smarter, zivil gekleideter Herren. Jüngere Typen, die genauso aussahen, als wenn sie soeben eine Folge von „Alarm für Cobra 11“ fertig abgedreht hätten. Lederjacken und Spitzbärtchen. Die Mädchen in der Klasse kicherten hinter vorgehaltenen Händen, gaben sich jedoch wenigstens pro forma beeindruckt.

      „Die sehen so aus, als wären sie selbst kaum der Schulbank entsprungen“, raunte Charly mir zu.

      „Ja, du hast recht. Ich frage mich, ob sie überhaupt eine Ahnung davon haben, was so alles an unseren Schulen abgeht.“

      „Wie ihr sicher bereits wisst, wurde gestern Nachmittag einer eurer Schulkameraden, Dennis Brandenberger, auf brutalste Weise misshandelt und verprügelt. Und zwar genau hier, auf eurem Schulhof. Seither liegt Dennis mit Rippen- und Schädelfrakturen auf der Intensivstation des Kantonsspitals“, begann der eine Beamte das Gespräch.

      „Und wir wissen, dass es zu diesem äußerst bedauerlichen Vorfall Zeugen geben muss“, schaltete sich der andere ein. „Eigentlich hatten wir gehofft, dass sich diese freiwillig bei uns oder bei der Lehrerschaft melden würden. Nun, da dies bisher leider nicht der Fall war, sind wir hierhergekommen, um mit jedem Einzelnen von euch zu sprechen. Mit jedem, der sich zur fraglichen Zeit auf dem Schulhof aufgehalten hat.“

      „Während der Befragung läuft der Unterricht weiter wie bisher. Die Herren von der Polizei werden sich einen Schüler oder eine Schülerin aus der Klasse herausbitten und die Befragung im Raum 3b durchführen. Danach wird der oder die Nächste aufgeboten!“, meldete sich nun auch Herr Gantenbein, unser Klassenlehrer, zu Wort.

      Die Erste, die mitgehen musste, war Alice Schilling. Ich weiß nicht, ob sie damals im Kreis der Gaffer dabei war. Schon nach wenigen Minuten kam sie wieder zurück. Sie war bleich und ließ den Kopf hängen. Immerhin haben sie ihr denselben nicht gerade abgerissen.

      Jedes Mal, wenn die Tür zur Klasse aufging und ein weiterer Schüler aufgerufen wurde, schnellte mein Puls in die Höhe. Es war kaum auszuhalten. An ein konzentriertes Arbeiten war ohnehin nicht zu denken. Unsere Klasse war bis auf ein paar wenige Schüler schon durch. Sie versuchen dich fertigzumachen!, redete ich mir ein. Sie wollen dich zuerst schmoren lassen und anschließend ausquetschen wie einen nassen Schwamm! Tatsächlich bildete ich mir ein, die ganze Klasse würde nur noch mich anstarren. „Alles Quatsch!“, sagte ich leise zu mir selbst. „Sie wissen gar nichts über dich! Bestenfalls wissen sie, dass du dabei warst. Mehr nicht – bestimmt.“

      Erneut ging die Tür auf und Luis Oliveira, ein kleiner, sanftmütiger Portugiesenjunge mit großen, dunklen Augen, trat herein. Er gehörte ebenfalls zur Klientel der Gang. Er schaute scheu in die Klasse