Die Waren- und Geldströme, in denen sich die marginalisierte Agro-Produktion oder punktuelle billige Lohnveredelungen etc. darstellen, sind zwar in der Tat im Verhältnis zum globalen Gesamtprodukt und insbesondere zum Volumen des inhaltsleeren Finanzkapitals vernachlässigenswert klein; aber eben in dieser relativ mikroskopischen Dimension der auf Weltniveau „gültigen“ Wertschöpfung verschwindet das Leben riesiger Bevölkerungsmassen von „Überflüssigen“. Der (selber bloß abstrakte und destruktive) Reichtum der westlichen Kernländer beruht nicht auf der Masse an billigen Schnittblumen aus Kolumbien oder Zentralafrika, die per Jet in die Metropolen verfrachtet werden; aber für diese paar Schnittblumen werden ganze Populationen sozial hingeopfert, eben weil die Weltmarktexistenz mit eiserner Konsequenz als die einzig mögliche Existenzform gesetzt ist.
Die Argumentation von Enzensberger ist durchsichtig apologetisch, und das weiß er wohl selber am besten. Offensichtlich zieht er es vor, perspektivische Hilflosigkeit in Zynismus umzusetzen. Aus der historisch konkreten Problemlage flüchtet er sich so in vermeintliche anthropologische Unausweichlichkeiten, in einen ahistorischen Existentialismus und Nihilismus: „Alte anthropologische Fragen stellen sich in dieser Lage neu“ (a.a.O., 11). Da ist dann hinsichtlich der neuen Qualität in der Vernichtung Wehrloser die Rede vom leider autistisch gewordenen „testosteronbedingten Energiestau der Jugend“ (a.a.O., 22). Das Verhältnis von moderner Subjektform und modernem Geschlechterverhältnis wird so an der globalen Krisenschranke des Systems nicht kritisch thematisiert, sondern ideologisch anthropologisiert, um sich dieser Krise nicht stellen zu müssen. Als die „eigentlich Schuldigen“ erscheinen dann die barbarischen „Herrscher der armen Welt“ (a.a.O., 41) usw. Der Westen, Zentrum der weltzerstörenden universellen Form des Kapitalverhältnisses, soll sich für sein eigenes Weltsystem unzuständig erklären, das westliche Publikum nicht länger mit den „unverständlichen Beweggründen“ (a.a.O., 78) der verrückten Mordfraktionen in exotischen Gegenden belästigt werden.
Der positive Eurozentrismus westlicher Allzuständigkeit im Namen des abstrakten Universalismus, der für die kapitalistische Ausbeutbarkeit der Welt stand, schlägt bei Enzensberger um in einen negativen Eurozentrismus der Ignoranz, der die inneren weltsystemischen Katastrophen veräußerlichen und verdrängen möchte, eben weil die Welt kapitalistisch ausbeutungsunfähig wird. Der Abschied von „moralischen Allmachtsphantasien“ (a.a.O., 86) gerät so zur alten Spießerweisheit einer Kirchturmspolitik: „Doch insgeheim weiß jeder, dass er sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muss“ (a.a.O., 87). Das ist bloß die Umkehrung der westlichen militärischen Interventionspolitik, aber keine Kritik der zugrunde liegenden Verhältnisse. So konnte Enzensberger von einem fanatischen Interventionsphilosophen wie André Glucksmann „Flucht aus der Verantwortung“ vorgeworfen werden, wobei dann die „Verantwortung“ für Glucksmann eben darin besteht, auf die unkontrollierbaren Krisengebiete Bomben regnen zu lassen.
So oder so erscheint nicht eine weitergehende, auf die Form des modernen Systems und seiner Subjektivität zielende radikale Kritik angesagt, sondern, wie Enzensberger meint, die „Triage“, die Notlagen-Selektion als „Zwangslage“ (a.a.O., 88 f.) unter unveränderlichen ontologischen Existenzbedingungen des warenproduzierenden Systems. „Was aus Angola werden soll, darüber müssen in erster Linie die Angolaner entscheiden“ (a.a.O., 90) - als würde die Globalisierung die angolanischen Mordbanden nicht zu ebenso direkten „Nachbarn“ machen wie die deutschen jugendlichen Mordbanden in „Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen“ (a.a.O., 90). Das universelle „Innen“ lässt sich nicht externalisieren und partikularisieren.
Die Metaphysik der Moderne und der Todestrieb des entgrenzten Subjekts
Natürlich fragt sich, wie Enzensberger aus einer durchaus hellsichtigen Analyse in eine derart gewollte Ignoranz und friedliche Koexistenz mit der Unbewältigbarkeit von „Zwangslagen“ abstürzen kann. Die Alternative zur westlichen Militärintervention gegen die vom globalen Kapitalverhältnis selbst induzierten Barbarisierungsprozesse ist schließlich nicht der aussichtslose Rückzug auf die vermeintliche Bewältigungskompetenz im eigenen Vorgarten, sondern eben die Erweiterung der nur noch im globalen Kontext zu formulierenden Gesellschaftskritik auf die unhaltbar gewordenen Formen des modernen warenproduzierenden Systems und seiner (strukturell „männlichen“) Subjektivität. Das Paradigma des form-immanenten Klassenkampfs ist abzulösen durch das Paradigma einer Kritik des gemeinsamen, klassen-übergreifenden Formzusammenhangs moderner, auf anonymer Monetarisierung und Konkurrenz wie auf dem geschlechtlichen Abspaltungsverhältnis beruhender negativer Gesellschaftlichkeit.
Woher also die Scheu nicht nur Enzensbergers, zu dieser Formkritik überzugehen? Der Grund dürfte darin liegen, dass eine solche weitergehende, kategoriale Kritik der Moderne alles vertraute Gelände verlassen müsste. Alle bisherige Gesellschaftskritik, nicht nur diejenige der Arbeiterbewegung im engeren Sinne, hatte sich im Zuge der kapitalistischen Aufstiegs- und Ausdehnungsbewegung positiv auf das Ideensystem der bürgerlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert und damit auf die Konstitution des bürgerlichen Subjekts bezogen. Dieses immer schon primär männlich gedachte Subjekt sollte gerade qua seiner Form emanzipativ handeln, in welcher ideologischen Verkleidung auch immer. Diese kategorial in der warenförmigen Vergesellschaftung befangene Vorstellungswelt hat nicht nur die sogenannte Neue Linke von der alten Arbeiterbewegung geerbt, sondern auch speziell die deutsche Nachkriegs-Intelligentsia gegen das Verhängnis der deutschen Geschichte geltend gemacht. Aufklärung, Subjekt, Politik, Demokratie: das waren Marx und die Propheten.
Umso schwerer fällt jetzt die Einsicht, dass die deutsche Geschichte unter Einschluss des Nationalsozialismus integraler Bestandteil der weltkapitalistischen Geschichte war, dass es keine positiv zu besetzende Alternative innerhalb dieser Form mehr gibt und dass im Zentrum der heutigen Weltmisere die ausweglos gewordene Form des modernen bürgerlichen Subjekts selber steht. Jetzt, an den Grenzen von bürgerlicher Aufklärung und warenförmiger Reproduktion, zeigt sich die reale Metaphysik der Moderne in ihrer abstoßendsten Weise. Nachdem das bürgerliche, aufgeklärte Subjekt alle seine Hüllen abgestreift hat, wird deutlich, dass sich unter diesen Hüllen NICHTS verbirgt: dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist; dass es sich um eine Form handelt, die „an sich“ keinen Inhalt hat. Was Enzensberger exotisieren möchte, ist sein eigenes gesellschaftliches Wesen als bürgerliches (und natürlich männliches) Aufklärungssubjekt. Wenn er meint, die Exotik des „Unverständlichen“ zu beschreiben, beschreibt er die Metaphysik der westlichen Moderne selbst: „Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht“ (a.a.O., 35). Aber genau dieses Unheimliche ist nicht das Fremde, Äußerliche, sondern es kommt nur das innerste Selbst des Waren-, Geld- und Konkurrenzsubjekts, das Wesen des demokratischen Staatsbürgers zum Vorschein. Das Nichts, um das es geht, ist die vollkommene Leere des sich verwertenden „automatischen Subjekts“ (Marx) der Moderne.
Denn die im Geld sich ausdrückende Form des Werts, der als objektivierte metaphysische Realabstraktion das moderne Dasein als „säkularisierter“ und verdinglichter Gott beherrscht und dessen Kehrseite die Metaphysik demokratischer Staatsbürgerlichkeit nur ist, hat „an sich“ keinerlei sinnlichen oder sozialen Inhalt; sie ist als negative Kraft in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Das metaphysische Vakuum des Werts ist es, das hinter den scheinbar so rationalen Interessenkämpfen und dem scheinbaren Selbstbehauptungswillen der abstrakten Individuen steht. Dieses Gorgonenhaupt der weltlosen Leere im Zentrum der Moderne möchten Leute wie Beck und Enzensberger lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Aber es ist eben diese metaphysische Monstrosität, die hinter dem fröhlichen individualisierten „Selbstmanager“ der Postmoderne zum Vorschein kommt.
In einem Weltklima der wechselseitigen Vernichtungskonkurrenz, der permanenten Gefährdung der sozialen Existenz und gleichzeitig eines prekären spekulativen Geldreichtums, der sich jeden Moment in Luft auflösen kann, gedeiht so ein diffuser Vernichtungswille, der