Friedhelm Keunitz wandte sich an Strattmann. «Sie waren mal Pistolenmüller, nicht wahr?»
«Das stimmt», bestätigte der. «Von ’55 bis ’57. Während der ersten Jahre von Joachim Lipschitz als Innensenator. Außer mir war niemand von uns für den Senator zuständig, obwohl der eine Reihe fanatischer Feinde hatte. Ich habe manchmal Blut und Wasser geschwitzt. Die Nazis haben Lipschitz gehasst wie die Pest. Aber manchmal hatte ich Unterstützung von den Amis, da sie der Meinung waren, Lipschitz müsse besser geschützt werden. Planen ließ sich das aber nicht. Mal waren die dabei, mal waren sie abwesend. Die dachten überhaupt nicht daran, mich in ihre Vorhaben einzuweihen.»
Voißel guckte auf seine Armbanduhr. «Oje, ich muss los! Der nächste Termin wartet bereits.»
Nachdem er gegangen war, saßen die vier Männer eine Weile zusammen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte.
Niederzier brach schließlich das Schweigen. «Herr Voißel hat darauf bestanden, den letzten, wichtigsten Teil seiner Unterrichtung in sehr kleinem Kreis zu geben. Er traut offenbar Leuten wie Schiltken und den Aktentaschenträgern aus der Senatsverwaltung nicht über den Weg. Er wollte aber, dass sie informiert werden. Das deutet für mich darauf hin, dass dies von seinen Vorgesetzten abgesegnet wurde. Die Tatsache, dass einer von den wenigen Sozialdemokraten im Bundesamt zu uns gesandt wurde, ist schon bemerkenswert. Sie kennen ihn wohl, Kollege Strattmann, wie?»
«Das ist richtig. Voißel passt im Bundesamt auf, dass dort nicht gegen die SPD intrigiert wird. Wir kennen uns aus verschiedenen Besprechungen.»
Niederzier blickte ihn prüfend an, dann fuhr er fort: «Ich bin der Auffassung, dass eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden muss, keine offizielle Sonderkommission mit allem Trara, sondern eine Gruppe, die ausschließlich Herrn Keunitz und mir berichtet. Nach außen hin werden wir sagen, dass sich die Ermittlungen auf einige alte Fälle beziehen, die abgeschlossen werden sollen.»
«Mir gefällt das nicht», warf Kappe ein. «Das ist und bleibt eine Angelegenheit des Staatsschutzes. Da sollten wir uns raushalten.»
Niederzier widersprach sofort. «Nein, Herr Kollege, das ist unser Problem. Die Spitze des Senats möchte, dass wir die Aufgabe übernehmen. Und das zählt, nichts anderes. Wenn sich die Staatsschützer einmischen sollten, geben Sie mir sofort Bescheid. Vernünftig wäre es, einen Mann aus deren Reihen zu bestimmen, der den Kontakt zu uns hält, aber nicht zusammen mit uns ermittelt.»
Kriminalrat Keunitz blickte Kappe an. «Mensch Kappe, das kennen Sie doch! Die Oberverdachtschöpfer würden Sie nur in Ihrer Arbeit behindern. Lassen Sie die ruhig weiter Kommunisten jagen – mit Anschlägen haben wir mehr Erfahrung.»
Kappe presste die Lippen zusammen.
«Ich mache mir wegen der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit Sorgen», warf Strattmann ein. «Die ist zwar ’59 aufgelöst worden, aber was aus ihren ehemaligen Mitgliedern geworden ist, weiß niemand genau. Einige von ihnen werden in den Westen ausgereist sein, etliche haben bestimmt beim Bundesnachrichtendienst angeheuert, andere hat sich die CIA geschnappt. Aber was der Rest macht, weiß kein Mensch. Mir wird ganz anders, wenn ich mir vorstelle, was die aushecken könnten.»
«Mich beunruhigen mehr diese jungen NPD-Typen, die nach West-Berlin gekommen sein sollen», sagte Otto Kappe. «Ja, und dann noch diese beiden Kerle, offenkundig Profis.»
«Haben die Herren eine Idee, wie wir nun verfahren sollen?», wollte Kriminaldirektor Niederzier wissen.
«Ich halte es für das Beste, dass Otto Kappe die Leitung der Untersuchung übernimmt», erklärte Strattmann.
Der Oberkommissar erstarrte. Die Regierenden umgingen aus irgendwelchen Gründen den Staatsschutz. Gegen den zu arbeiten würde schon schwierig genug werden. Und ausgerechnet in diesem Fall soll ich die Ermittlungen leiten?, fragte er sich. Ausgerechnet ich, der sich von Politik immer ferngehalten hat? Von rechtsextremen Umtrieben hatte er keinen blassen Schimmer. Das konnte nicht gut gehen!
Natürlich wusste Otto Kappe, dass sich in seiner Stadt Vertreter aller möglichen politischen Richtungen tummelten, dass es hier ebenso fanatische Rechte wie fanatische Linke gab. Aber während seiner Arbeit in der Mordabteilung hatte er als grundsolider Berliner Beamter sich für all das nicht interessiert. Er hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, der Unterwelt Paroli zu bieten. «Warum sollte ich das tun?», fragte Kappe nun laut.
Niederzier schob die Unterlippe vor und wiegte den Kopf hin und her. «Weil saubere Polizeiarbeit gefordert ist, von unseren besten Leuten.»
«Ich kenne mich in diesem Bereich der Kriminalität nicht aus», wehrte Kappe ab.
«Gewaltbereite Nazis sind Verbrecher wie andere auch. Otto, du musst das machen!», sagte Strattmann. Dann wandte er sich zum Kriminaldirektor. «Herr Kappe ist unsere erste Wahl. Ich bin gerne bereit, ihm den Rücken freizuhalten. Aber die Leitung sollte er übernehmen. Er ist erfahren, hat einen guten Instinkt, wird überall geschätzt, und er kann sich durchsetzen.»
«Das sehe ich auch so», meinte Kriminalrat Keunitz. «Er kann das.»
«Ich habe mir so etwas schon gedacht», entgegnete der Kripochef. «Also gut …»
«Nichts ist gut!», unterbrach Kappe ihn. «Ich habe nicht Ja gesagt. Wenn bei diesen Ermittlungen auch nur irgendetwas schiefläuft, fällt das auf mich zurück. Wenn ich Pech habe, kann ich anschließend im Tiergarten Streife gehen.»
«Egal, wer’s machen würde», warf Strattmann ein, «jeder würde dieses Risiko eingehen. Auch ich. Bei mir wäre es sogar noch größer, weil alle Welt sagen würde, der ist mit dem Freifahrtschein der SPD an seinen Posten gelangt, und nun hat er Mist gebaut. Mich würden die nicht mal mehr Streifendienst versehen lassen!» Strattmann zündete sich eine Zigarette der Marke Overstolz an, ein Arbeiterkraut. «Es ist eigentlich ganz einfach, Otto. Berlin ist unsere Heimat. Und wir sorgen dafür, dass diese Halunken keine Verbrechen verüben. Wenn du die Leitung übernimmst, bin ich immer an deiner Seite.»
«Eines muss klar sein: Ausufernde Ermittlungen können wir uns nicht leisten, Fehlschläge erst recht nicht», warnte Niederzier.
«Also, Otto, was meinst du?», fragte Strattmann.
«In Ordnung», sagte Kappe widerwillig, «aber nur, weil ihr mich sonst nicht in Ruhe lasst.»
«Wen wollen Sie in Ihrer Gruppe haben?», erkundigte sich Niederzier sofort.
«Eduard Strattmann wird mein Stellvertreter. Natürlich brauche ich Hans-Gert Galgenberg, der an meine Art zu arbeiten gewöhnt ist und der mir einiges abnehmen kann. Außerdem möchte ich noch die Kriminalmeisterin Lilli Lenné von der Weiblichen Kriminalpolizei dabeihaben.»
«Warum die?», wollte Keunitz wissen.
«Weil ich meine, dass es gut ist, wenn jemand unser Team unterstützt, der die Kerle, mit denen wir es zu tun haben werden, aus einer anderen Perspektive betrachtet als wir. Sie hat oft genug bewiesen, dass sie mit ihrem guten Instinkt Ermittlungen voranbringen kann. Hat jemand hier etwas gegen die Kriminalmeisterin?»
Keiner sagte etwas.
«Außerdem sollten Gerhard Piossek und Günter Kynast dabei sein, die sind erfahren und enorm belastbar. Sie beherrschen ihre Arbeit aus dem Effeff. Kynast brennt außerdem vor Ehrgeiz, soweit ich das beurteilen kann. Jürgen Rückert ist leider noch in seinem wohlverdienten Urlaub. Aber wir werden noch jemanden brauchen, der nicht davor zurückscheut, etwas gröber vorzugehen. Da habe ich sofort an den Hauptwachtmeister Ludwig Bredow vom Revier in der Koloniestraße im Wedding gedacht. Den kann man als lebendes Lexikon der Berliner Polizeigeschichte bezeichnen. Frau Frieda Kessel wird den Schreibkram erledigen. Mit dieser Truppe würde ich gerne antreten. Ob das genügend Leute sind, weiß ich nicht.»
«Machen Sie sich deswegen keine Sorgen», sagte Keunitz. «Sie kriegen bei Bedarf, wen Sie brauchen.» Er schaute Kappe forschend an. «Aber der Bredow passt