Am Tisch standen einige jüngere Männer zusammen. Sie waren allesamt in dunkle Anzüge und weiße Hemden mit gestreiften Krawatten gekleidet und hatten exakt gescheitelte Haare. Otto Kappe hatte keinen von ihnen schon mal gesehen.
Ein paar Schritte von ihnen entfernt unterhielten sich zwei Männer. Den Jüngeren kannte Kappe flüchtig – der war vom Staatsschutz. Plötzlich war Kappe hellwach. Der Staatsschutz war also auch dabei. Der gehörte zwar zur Kripo, war aber nicht dem Kripodirektor Niederzier unterstellt, sondern direkt dem Polizeipräsidenten Duensing. Wie Terrier, die sich für die Fuchsjagd trainieren lassen, war der Staatsschutz auf Kommunisten dressiert. Manche nannten die Staatsschützer spöttisch die «hochgeheimen Eichkatzen». Kappe und seine Kollegen wussten, dass alles, was der Staatsschutz trieb, sofort bei den Geheimdiensten der Alliierten oder beim deutschen Bundesnachrichtendienst landete. Die beiden Männer schauten Kappe an. Er nickte ihnen wortlos zu.
Niederzier hatte offenbar nur darauf gewartet, dass Otto Kappe eintreffen würde, denn jetzt ergriff er das Wort. «Meine Herren, ich freue mich, Sie hier begrüßen zu können. Ich möchte Sie mit Oberregierungsrat Hans Josef Voißel bekannt machen. Er ist Gruppenleiter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein hochrangiger Vertreter des Verfassungsschutzes die Berliner Kripo persönlich informiert. Was er uns mitzuteilen hat, ist für unsere Arbeit sehr wichtig. Ich bitte deshalb um höchste Aufmerksamkeit.» Niederzier blickte in die Runde und fuhr fort. «Außerdem begrüße ich zwei Kollegen vom Staatsschutz: Herrn Edgar Maischonnek und Herrn Rudolf Schiltken.»
Maischonnek war ein dünner, blasser Mann. Er trug eine dunkle Wollhose und ein helles Sakko mit Salz-und-Pfeffer-Muster, dazu ein weißes Hemd und eine hellblaue Krawatte. Otto Kappe schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er war ihm hin und wieder begegnet. Schiltken hingegen hatte er noch nie gesehen, obwohl der in seinem Alter sein musste. Er trug einen unauffälligen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Kappe fiel auf, dass ein Ordensband Schiltkens linkes Revers schmückte. So etwas hatte es, als Johannes Stumm noch Berliner Polizeipräsident gewesen war, nicht gegeben. Jeder farbige Streifen des Abzeichens stand für einen Orden. Einer war tiefblau. Kappe wusste, was das zu bedeuten hatte: Der Träger musste mindestens zwölf Jahre in Hitlers Wehrmacht gedient haben. Bis Kriegsende 1945 hatte ein Hakenkreuz im Eichenkranz den blauen Streifen verziert, nun fehlte es. So einer ist der also, dachte Kappe bei sich.
«Meine Herren, Herr Voißel hat das Wort!», sagte der Kriminaldirektor.
Der Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte einen stahlblauen Anzug mit breitem Kragenaufschlag und eine rote Krawatte an. Er wirkte gedrungen. Kappe hatte seine wachsamen Augen bemerkt, denen nichts im Raum zu entgehen schien. Während Strattmann geredet hatte, hatte Voißel jeden Anwesenden gemustert. Nun nickte Strattmann Voißel freundlich zu. Kappe schloss daraus, dass sich die beiden aus der SPD kannten.
«Guten Morgen! Ich bitte sehr herzlich um absolute Diskretion.» Voißels Blick wanderte durch die Reihen. «Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass in Berlin ein politisch motiviertes Verbrechen vorbereitet wird.»
Im Raum war es totenstill. Günther Niederzier hatte den Blick gesenkt. Friedhelm Keunitz fixierte Voißel. Otto Kappe registrierte die entsetzten Gesichter seiner Kollegen.
«Lassen Sie mich darlegen, worauf sich diese Vermutung stützt», fuhr Voißel fort. «Sie werden sich vielleicht daran erinnern, dass im Sommer in einigen Zeitungen zu lesen war, dass dem Sonderbeauftragten des Bundeskanzlers für Berlin Ernst Lemmer, dem Abgeordneten Herbert Wehner und dem amerikanischen Botschafter George C. McGhee Briefe in ihre Bonner Büros zugestellt wurden, die tödliches Gift enthielten. Zwei Sekretärinnen erlitten Verbrennungen, als sie die Briefe öffneten. In den Zeitungsberichten war über die näheren Umstände dieser Anschläge nichts zu lesen, weil wir nicht wollten, dass zu viel bekannt wurde. Wir haben glaubhaft den Eindruck erweckt, dass der Täter geistesgestört wäre. Tatsächlich aber stand hinter den Taten offenbar ein politisches Kalkül. Sie wurden von einem ehemaligen Mitglied der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit verübt, die bekanntlich in West-Berlin ihre Zentrale hatte. Der Mann agierte unter dem Namen Bruhn und lebt mittlerweile in Schweden, unsere Justiz hat deshalb keinen Zugriff auf ihn. Warum er diese Giftbriefe versendet hat, wissen wir letztendlich nicht genau. Doch es liegt die Vermutung nahe, dass er politische Rechnungen begleichen wollte. Kennt jemand den Mann zufällig?»
Niemand meldete sich zu Wort. Voißel blätterte in seinen Papieren, seine Zuhörerschaft war still. Kappe fröstelte.
«Für uns im Kölner Bundesamt waren die Anschläge Anlass, uns das Umfeld des Täters genau anzuschauen. Dabei stellten wir fest, dass mehrere jüngere Anhänger der vor zwei Jahren gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands aus dem Westen nach Berlin reisten, um sich hier niederzulassen. Sie sind untergetaucht, aber höchstwahrscheinlich noch in West-Berlin. Es handelt sich hierbei um Hilfsarbeiter, die bewaffnet sind und wir als höchst gefährlich einstufen. Ob sie direkt aus der Führungsebene der NPD gelenkt werden, wissen wir nicht. Es ist aber möglich. Im achtzehnköpfigen Vorstand dieser Partei, die unlängst in Hessen fast acht Prozent der Wählerstimmen erhielt, sind zwölf Personen, die schon zu Hitlers Zeiten aktiv waren, ehemalige SS-Leute, Gauredner, frühere Kreisvorsitzende der NSDAP und so weiter.» Voißel dachte einen Augenblick nach. «Wir wissen nicht, mit welchem Auftrag sie nach Berlin geschickt wurden. Es kann sein, dass sie sich eine Zeit lang ruhig verhalten, um auf eine günstige Gelegenheit für einen Anschlag zu warten. Alarmierend ist die Übersiedlung nach Berlin allemal.»
Friedhelm Keunitz ergriff das Wort. «Die Geschichte mit den Briefen war mir bekannt. Aber ich dachte, es habe sich nur um Drohbriefe gehandelt. Dass ein Ehemaliger der Kampfgruppe dahintersteckt, klingt in der Tat bedrohlich. Eine akute Gefahr kann ich dennoch nicht erkennen. Die Berliner Bevölkerung hat die Nase gestrichen voll von den Nazis, diese neue Partei dürfte sich kaum Hoffnungen machen, durch einen Anschlag erneut Massen mobilisieren zu können.»
Voißel blickte Keunitz nachdenklich an. «Vor wenigen Wochen sind Albert Speer und Baldur von Schirach aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau entlassen worden. Das hat manche Nationalsozialisten elektrisiert. Und vor ein paar Monaten ist der Generalinspekteur der Bundeswehr Heinz Trettner zurückgetreten. Der war für viele alte Nazis eine Identifikationsfigur. Trettner gehörte als Generalmajor schließlich zu denen, die Hitler bis Mai 1945 unterstützt hatten. Und am heutigen Tag wird der frühere SS-Arzt Horst Schumann von der Regierung Ghanas an die Bundesrepublik ausgeliefert, damit ihm hier der Prozess wegen seiner Gräueltaten während der NS-Zeit gemacht werden kann. Schumann war nach Afrika geflüchtet, weil ihm bei uns die Justiz auf den Fersen war. Er wurde in Ghana von höchsten Stellen des Staates geschützt. Erst nach einem Machtwechsel in diesem Land kam seine Auslieferung ins Rollen. Können Sie mir folgen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Voißel fort: «Auch dieser feine Herr ist für viele alte und neue Nazis ein Idol.»
Kriminalrat Keunitz warf ein: «Entschuldigen Sie, Herr Kollege, aber wollen Sie uns glauben machen, die Auslieferung eines früheren SS-Arztes würde Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie dazu bringen, Attentate zu verüben? Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Ich möchte Ihnen nur deutlich machen», erwiderte Voißel, «dass die Rechtsextremen wieder an Zuspruch gewinnen und es ihnen gelingt, Vorgänge wie die um Trettner oder Schumann zu nutzen, um neue Anhänger zu gewinnen. Millionen derer, die bis 1945 Hitler zujubelten, sind doch noch unter uns! Und die NPD versucht, sie dazu zu bringen, wieder aus der Deckung zu kommen. Vermutlich denken die Nazis, ein politischer Anschlag könnte das forcieren.»
Einige zündeten