Die Drohung des «alten Genossen» von knapp dreißig Jahren überraschte Hildegund nicht. Jeder wusste, dass der von den Amerikanern bezahlte Rundfunk aus dem amerikanischen Sektor hier im Haus als rotes Tuch galt. Die Erwähnung des Feindsenders war – wenn überhaupt – nur unter Beifügung saftiger Vokabeln üblich. Und dass der Telefonverkehr zwischen Ost und West seit Dienstag unterbrochen war, musste inzwischen auch der Letzte mitgekriegt haben.
Hildegund hatte sich längst abgewöhnt, auf den Inhalt der Phrasen zu achten, die täglich nicht nur an ihre Ohren drangen, sondern auch auf ihren Stenoblock und anschließend in die Tasten gerieten. Nur gelegentlich machte sie auf eine besonders unpassende Formulierung aufmerksam oder korrigierte die schlimmsten Sprachschnitzer. Sie war inzwischen zur Sekretärin des stellvertretenden Chefs aufgestiegen, aber keiner von diesen neunmalklugen Fatzken ließ sich gerne von einer einfachen Tippse belehren. Stattdessen machten die Kerle sich auf schleimige Art an sie ran oder versuchten, ihr mehr oder weniger direkt an die Wäsche zu gehen. «Sexualproviant», hatte mal einer gesagt und damit all die schlechtbezahlten jungen Frauen im Haus gemeint, die in den Sekretariaten, in der Telefonzentrale und in der Technik arbeiteten.
Sexualproviant! Für so was war sich Hildegund zu schade. Ihr beinahe vergessener Verlobter, eine Kinderfreundschaft aus dem Nachbarhaus, war vom letzten Einsatz an der Oder nicht zurückgekehrt, ihr kurzzeitiges Verhältnis mit einem Kaffeeschieber bald gescheitert. Und schließlich hatte sie es nach zwei Versuchen auch aufgegeben, sich mit einem der Redakteure aus dem Funkhaus einzulassen. Politische Agitation störte sie im privaten Bereich. Zu allem Unglück hatte sich der erste Kandidat, bei der täglichen Arbeit ein besonders scharfer Genosse, unerwartet als westlicher Provokateur entpuppt, der seine Agentenausbildung in britischer Kriegsgefangenschaft verheimlicht hatte. Ihr hatte das einigen Ärger eingebracht. Der zweite, ein ausnehmend schöner Mann, um den alle Frauen sie beneideten, hatte sich im Endeffekt als einer von den vielen Homosexuellen im Hause erwiesen und wollte die Beziehung zu einer Frau als Tarnung nutzen.
Allen schlechten Erfahrungen zum Trotz wäre Hildegund mit ihrem Leben zufrieden gewesen, hätte sich Zufriedenheit überhaupt unter den von ihr erwogenen Möglichkeiten menschlicher Existenz befunden. Sie war ein von Natur aus kritischer Mensch, der nicht zu viel von den eigenen und noch weniger von den Leistungen und Fähigkeiten anderer hielt. Glücklicherweise hinderte ihre Intelligenz sie daran, sich diesbezüglich zu äußern. Im jahrelangen engen Zusammenleben mit einer starrsinnigen Mutter war es ihr gelungen, ihre Schweigsamkeit so weit zu vervollkommnen, dass man sie allgemein für zurückhaltend, ja beinahe schüchtern hielt. Als eine nicht mehr ganz junge, stets wie aus dem Ei gepellte, dezent geschminkte und sorgfältig frisierte junge Frau hinterließ sie überall den allerbesten Eindruck. In normalen Zeiten wäre sie längst als Mutter schulpflichtiger Kinder mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen. Aber die Zeiten waren, sieben Jahre nach Kriegsende, in ihren Augen keineswegs als normal anzusehen.
Anders als ihr armer Vater, der in den Weiten Russlands verschollen blieb, hatte sie den Krieg leidlich überstanden. Als 25-jährige Nachrichtenhelferin mit Fernschreibpraxis, mit guten Schreibmaschinenkenntnissen also, besaß sie keine schlechte Ausgangsposition für einen Neuanfang. Das bisschen Steno flog ihr beinahe zu. Die kränkelnde Mutter hatte den Nahrungsmangel und den kalten Winter ’47 nicht überstanden und ihr die schlicht eingerichtete Wohnung der einstigen Familie in der Palisadenstraße hinterlassen: Stube und Küche im Hinterhof, immerhin mit Innentoilette. Das war keine erstklassige Adresse, doch sehr viel mehr, als andere junge Frauen ihr Eigen nannten. Wohnraum war knapp in Ost und West. Von den Neubauten an der Stalinallee erwarteten bloß Aktivisten des Nationalen Aufbauwerks und sächsischsprechende Funktionäre eine Verbesserung. Hildegund stand der Sinn nicht nach freiwilligen Aufbaustunden, wenn sie abends todmüde nach Hause kam.
Dass ihr die Wohnung noch zu einem ganz anderen Vorteil gereichen würde, hätte sie nicht erwartet, als sie sich vor drei Jahren auf den Rat einer Bekannten hin beim Berliner Rundfunk bewarb. Dessen Generalintendanz befand sich im alten Goebbels-Ministerium am Kaiserhof, der jetzt Thälmannplatz hieß, die Personalabteilung saß nicht weit entfernt, in der Friedrichstraße. Dort empfing sie ein finster wirkender, dunkelhaariger Mann unbestimmten Alters, dessen durchdringender Blick sie irritierte. Erst als sie den Beruf des Vaters – der war Maurer – angab, wurde seine Miene wohlwollender und hellte sich bei ihrer Adresse endgültig auf. «Wir brauchen dringend junge Arbeiterkader aus dem Osten», äußerte er mit dem rollenden R des Sudetendeutschen, und damit war sie eingestellt.
Es war ein bemerkenswertes Unternehmen, in das sie da geriet. Berliner Rundfunk und Deutschlandsender residierten als Deutscher Demokratischer Rundfunk unter sowjetischem Schutz im Funkhaus der ehemaligen Reichsrundfunkgesellschaft in Charlottenburg und damit im britischen Sektor von Berlin. Vor dem ansehnlichen Klinkerbau an der Masurenallee verkündeten nicht zu übersehende Tafeln: Achtung! Dies ist kein Westberliner Sender! Dennoch führten alle Kabel aus dem Funkhaus in den amerikanischen Sektor nach Schöneberg, zum Verstärkeramt in der Winterfeldtstraße, wo sich bis 1948 die RIAS-Studios befunden hatten. Damals hatten die Sendeanlagen noch in Tegel im französischen Sektor gestanden.
Einen eigenen Rundfunksender besaß die von den Westmächten gepäppelte Insel im roten Meer, sah man vom amerikanischen RIAS ab, nicht. Der Nordwestdeutsche Rundfunk NWDR betrieb im Haus der Zahnärzte am Heidelberger Platz ein bescheidenes Studio und weit hinter dem Olympiastadion einen schwachen Sender, der kaum über West-Berlin hinausdrang. Aus der Ribbentrop-Villa in der Dahlemer Podbielskiallee erfreute der AFN des American Forces Network die amerikanischen Soldaten und eine jugendliche deutsche Hörerschar in Ost und West mit der Musik, die sie wirklich hören wollten. In der Masurenallee lagerte Derartiges als «imperialistisch verseucht» im Giftschrank.
Zu Hause in ihrer düsteren Hinterhofstube bevorzugte Hildegund wie die meisten ihrer Nachbarn den RIAS. Das Programm fiel allemal unterhaltender und informativer aus als die dröge Propaganda aus der Masurenallee. Bei flotter Musik erfuhr man, was im Westen, vor allem aber, was im Osten wirklich passierte, und montags hörte alle Welt die Schlager der Woche. Das West-Berliner Radiokabarett Die Insulaner mochte Hildegund nicht so sehr, die populäre Unterhaltungssendung Mach mit dafür umso mehr. Die versuchten die östlichen Betriebsabende vergebens zu übertreffen.
Dass die RIAS-Kommentare genauso giftig klangen wie diejenigen, die sie täglich zu tippen hatte, störte Hildegund kaum. Es überraschte sie nur immer wieder, dass der Westen nichts Ernsthaftes gegen die feindselige Stimme in der eigenen Stadthälfte unternahm. Umgekehrt hätten die Russen sich das vermutlich nicht so lange gefallen lassen. Im Haus wurde viel darüber gemunkelt, wie lange das noch gutgehen würde. Die Übertragungstechnik war bereits in den Ostsektor umgesiedelt. Vor einigen Tagen hatte man in einer Nacht- und Nebelaktion auch den größten Teil des Musikarchivs in den Osten transportiert. Unter strengster Geheimhaltung natürlich, doch Hildegund besaß, wenn es darauf ankam, ein gutes Gehör. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Unzahl von Tonbändern in dem kleinen Funkhaus in Grünau Platz finden sollte. In das ehemalige Bootshaus draußen an der Dahme musste sie von Zeit zu Zeit vertrauliche Materialien bringen.
Wie der hauseigene Mundfunk meldete, war man seit einem Jahr irgendwo in Ost-Berlin dabei, ein neues Funkhaus einzurichten, zu dem West-Berliner keinen Zutritt haben sollten. Das wiederum glaubte Hildegund nicht, wohnten doch viele Schauspieler und Regisseure und fast alle Musiker seit eh und je im Westen der Stadt. Zu einem Umzug in den Osten würde sich kaum einer von denen überreden lassen.
Bei den Redakteuren holte man den erforderlichen Nachwuchs aus der Provinz, so wie diesen Bauerntölpel Volker Ratzmann, der gerade hereinstürmte, schwitzend, die zerknitterten Papierbögen schwenkend und einen Geruch nach Ziegenstall verbreitend. Unwillkürlich bekam Hildegund eine Gänsehaut. Der Kerl wagte es wahrhaftig, ihr seine feuchte Flosse vertraulich auf die Schulter zu legen und sich über