Paul fing an zu schnupfen, zog sein Stofftaschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich. „Ich könnte bei beiden anfragen, ob sie interessiert sind, zunächst einen Briefkontakt mit dir aufzunehmen, wenn du willst.“
Paul seinerseits stand nun auf, ging zum Fenster, verharrte dort eine Weile, drehte sich dann langsam um, seine Brille hatte er abgenommen und hielt sie in der Hand. Um die Augen glänzte es feucht. Er räusperte sich und ging zu seinem Stuhl zurück. „Ich wusste schon immer, dass du mein guter Engel bist.“ Seine Stimme klang belegt. Er atmete mit ganzer Kraft wie aus tiefster Seele ein und sagte nach einer Pause, als wenn es ihn hohe Überwindung kostete: „Ja, Tante Selma, ich möchte die beiden Frauen kennenlernen.“
Er schüttelte verwundert den Kopf, legte seine Hand auf ihre, als er sagte: „Das wird deine größte Menschentat, wenn ich durch dich die Frau für mein Leben, die Mutter meiner Kinder finde.“ Ihm fiel auf, dass er gerade von seinen Kindern gesprochen hatte. Welcher Gedanke! Eigene Kinder! Bisher nur ein Traum, schmerzlich bewusst geworden, als Arthur sein kleines Mädchen bekam. „Eine Frau und Kinder, eine Familie“, sagte Paul noch einmal leise wie zu sich selbst, schüttelte wieder ungläubig den Kopf und lächelte Selma in großer Verwirrung an. „Es wäre mein höchstes Glü...“, da brach ihm die Stimme, und er musste endgültig weinen. In einem großen, nicht enden wollenden Tränenstrom nahm er Abschied von seiner einzigen Liebe und wurde bereit, sie dieser geliebten Selma zuliebe mit einer anderen Frau zu teilen.
Selma hielt seine rechte Hand mit ihren beiden Händen, schaute auf dieses Händebündel und ließ Paul weinen und Abschied nehmen von seinem unerfüllbaren Jugendtraum.
11. Kapitel
Der Schicksalsbrief
1928 – 1935
Seine Hand bebte leicht, als Paul zu den Anfangszeilen in seinem ersten Brief an Emma ansetzte. Die Schrift gelang nur zittrig. ‚Sehr geehrtes Fräulein Menzel‘, begann er. Dann hob er seinen Kopf. Die Tinte an der Feder trocknete ein.
Wie schreibt man einer jungen Dame, die man kennenlernen möchte. Von der ich nur weiß, dass Tante Selma sie schätzt und die ich, sollte das Schicksal mir wohlwollen, heiraten möchte, ging es Paul durch den Kopf. Ihm war heiß, wenngleich draußen wohltuende Herbstkühle herrschte.
Er legte den Federhalter neben den Block, lehnte sich nach hinten auf seinem Stuhl und faltete die Hände hinter dem Kopf. Nach einer Weile sprang er auf, lief zum Fenster seiner kleinen Stube, die er als Untermieter bewohnte, öffnete den Riegel und schaute nachdenklich hinaus.
Das fahle Herbstlicht legte einen wehmütigen Zauber über das sich färbende Laub. Auf einem Apfelbaum gegenüber leuchteten drei verbliebene rote Äpfel aus den gelb-grünen und braun eingerollten Blättern. Eine Taube flog mit gedämpftem Druu-uu an seinem Fenster vorbei hin zu dem schräg gegenüberliegenden Bäckerladen, wo sie, wie alle Tage, vor der Ladentür Krumen aufpickte.
‚Was willst Du?‘, hörte er Tante Selmas Stimme. ‚Eine Frau finden, die mich heiraten will‘, hörte er sich antworten. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine Falte aufgestellt. ‚Und was will der Brief?‘, fragte Tante Selma weiter. Paul dachte einen Augenblick nach. ‚Mich bekanntmachen. Sie soll neugierig werden und mich kennenlernen wollen.‘ Er atmete erleichtert auf. ‚Na also‘, sagte Tante Selmas Stimme zufrieden. ‚Und warum legst du nicht los wie ein heiratswilliger, wunderbarer junger Mann?‘ Tante Selmas Stimme klang energisch und belustigt zugleich. ‚Weil es so schwer ist, sich anzupreisen‘, hört er sich antworten und fand diesen Satz mehr als geistesschlicht. Er schüttelte den Kopf über sich selber und wedelte mit der flachen Hand vor seiner Stirn. ‚Wer spricht von Anpreisen? Du sollst deiner Künftigen ein Bild von dir malen. Besser farbig als schwarz-weiß. Also auf, mein Freund! Mutig, offen, ehrlich. Und vor allem: mit Herz!‘
Paul geht zurück zu seinem Stuhl. ‚Danke, Tante Selma, du mein guter Geist‘, hört er sich sagen. Der Dialog mit seiner Gefährtin hat ihm Klarheit gebracht und ihn ausgestattet mit Entschlossenheit und neuem Selbstvertrauen.
Er überlegt, ihm gegenüber säße diese Frau, verhüllt von einem Schleier, eine rätselhafte Silhouette. Für dieses Rätselwesen sei er selbst ebenso ein umflorter Schatten. Aus seinem Schleier will er nun mit Worten als leibhaftiger Mensch hervortreten, als Mensch mit einem warm schlagenden Herzen, mit Wünschen und Träumen.
Paul nahm den Federhalter wieder zur Hand, tauchte ihn in sein Fass mit der blauen Tinte und begann zu schreiben. Nach zwei Stunden unterschrieb er mit ‚Ihr ergebener Paul Freund.‘
Wieder lehnte er sich zurück, strich seinen Nacken, stöhnte ‚ah‘ und atmete tief durch. Er ging zum Fenster und genoss den Schein der weißlichen Herbstsonne. Lange stand er so. Eine große Seelenruhe erfüllte ihn. Vollbracht, klang es in seinem Herzen.
Er ging zurück zum Tisch, nahm den Brief zur Hand, als sei das der Brief eines anderen, schob seinen Stuhl mit den Füßen vom Tisch ab und begann zu lesen. Er dachte an die Fremde hinter dem Schleier, wie sie diesen Brief eines Unbekannten öffnet und sich hinein vertieft.
Nach der Lektüre der sechs handschriftlich beschriebenen Seiten fragte er sich: Das soll ich geschrieben haben? Was da steht ist gut. Richtig gut. Und ehrlich. Genau das wollte ich gesagt und geschrieben haben.
Emmas Tag im Lungen-Sanatorium Bad Reinerz war anstrengend gewesen. Wieder war einer ihrer Langzeitpatienten gestorben. Tage zuvor war er ‚aufgeblüht‘, wie sie es nannten, nachdem das verräterische Fieber höher und höher gestiegen war. ‚Jetzt macht er es nicht mehr lange‘, hatten die Kollegen prophezeit, die mit diesem Aufblühen länger Erfahrung hatten als sie.
Emma ließen diese, zynisch ‚Abgänge‘ genannten Todesfälle im Sanatorium nach wie vor nicht kalt. Sie würde es nie normal finden, dass viele ihrer Patienten nicht nach Hause zurückkehrten. Wieder einmal ging ihr beim Ableben des ehemaligen Verdun-Kämpfers Faust die Zeile durch den Sinn: ‚Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss.‘
Betrübt trottete sie dem Haus in Bad Reinerz zu, in dem sie ein Zimmer als Untermieterin bewohnte. Vor ihre Zimmertür hatte ihre Vermieterin einen Brief gelegt.
Emma nahm den Brief in die Hand. Was für eine ausdrucksstarke Handschrift, dachte sie, noch bevor sie auf den Absender schaute.
Tante Selma hatte bei ihr angefragt, ob sie einverstanden sei, wenn ein junger Mann, den sie, Selma, kenne und schätze, brieflich Kontakt mit ihr aufnähme.
Sie wendete den Brief und las den Absender: ‚Paul Freund.‘ Einen Moment lang stolperte ihr Puls. Dann stieg ihr eine heiße Woge in den Nacken. ‚Ruhig‘, sagte sie zu sich selbst. Sie schloss die Tür auf, legte den Brief auf den Tisch, zog ihre Windjacke bewusst langsam aus und hängte sie sorgfältig an den Garderobenhaken. Dass sie weiche Knie bekommen hatte, versuchte sie zu ignorieren. Emma ging gelassenen Schrittes zu ihrem Wasserhahn, als läge kein Brief auf ihrem Wohnzimmertisch, wusch sich die Hände gründlich mit der rauen Kernseife, zu der sie als Sanatoriums-Bedienstete Zugang hatte, nahm ein Glas von ihrem Geschirrbord, füllte es mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Dann noch ein zweites. Und ein drittes.
Danach war sie sicher, dass ein Brief von dem gewissen Unbekannten angekommen war und sie nicht träumte.
Sie ging zu ihrem Tisch zurück, nahm den Brief erneut in die Hand und setzte sich auf den Stuhl. Ein dicker Brief. Sie wog ihn in der Hand. Dann öffnete sie ihn sorgfältig mit ihrem Brieföffner und zog drei beidseitig handbeschriebene Blätter heraus. Bevor sie begann, den Brief zu lesen, betrachtete sie die Schrift. Durch die früheren Grafologie-Übungen, zusammen mit ihren Freundinnen bei Tante Selma, der amtlich vereidigten Gerichts-Grafologin, fesselte sie diese Schrift unvermittelt. Klar, geordnet, phantasievoll, großzügig, aktiver Geist, wache Sinne. Emma ließ die Handschrift nachhaltig auf sich wirken. Starke Persönlichkeit. Was sie wahrnahm, gefiel ihr. Gefiel ihr sehr.
Dann begann sie zu lesen.
Als