Ruthie 2
Von hastigen Gelöbnissen
Ruthie stand auf einem Stuhl. Mame steckte den Rocksaum von dem schicken grauen Gabardinekostüm ab, das sie bei Goodwill gefunden hatte. Die Ärmel waren unten leicht abgetragen, aber die hatte Mame eingeschlagen, und die Nähte unter den Armen hatte Ruthie selbst ausgebessert. Der Rock war länger, als junge Frauen jetzt trugen, und so machte Mame ihn kürzer. Das musste alles in großer Eile geschehen, denn Leib und Trudi heirateten heute Nachmittag im Studierzimmer vom Rabbi.
Ruthie wusste noch nicht, was sie von der Heirat halten sollte. Leib hatte für eine kleine Firma gearbeitet, die Reklameluftballons herstellte, aber die bekam keinen Gummi mehr geliefert und musste alle entlassen. Er hatte Arbeit am Fließband vom Chrysler-Panzerwerk gefunden, aber als seine Nummer von der Einberufungsbehörde aufgerufen wurde, war er noch nicht lange genug dabei, um wegen kriegswichtiger Arbeit freigestellt zu werden. Jetzt musste er in drei Tagen zur Armee, und er und Trudi heirateten sofort. Seit seiner Trennung von Ruthie hatte er sich ab und zu mit Trudi getroffen, aber Trudi hatte geklagt, er sei nicht in sie verliebt.
Als Trudi ihr von der Hochzeit erzählte, sagte Ruthie: »Aber ich dachte, so gut stand es zwischen euch nicht.«
»Schon, aber das hat sich geändert. Jetzt will er mich heiraten. Hör bloß auf, Ruthie, du hättest Leib auch geheiratet, wenn er dich je gebeten hätte, also erzähl mir keinen Quatsch. Was will man mehr, groß, dunkel und gutaussehend. Außerdem bin ich Patriotin.« Trudi war die vierte ihrer Freundinnen, die seit dem siebten Dezember heiratete, jede einen Mann mit dem Einberufungsbefehl in der Tasche.
Als Trudi Ruthie gebeten hatte, ihre Brautführerin zu sein, hätte Ruthie sich am liebsten gedrückt. Sie hatte keine Lust, Leib zu begegnen; es tat immer noch weh. Sie meinte nicht, ihn wirklich geliebt zu haben. In ihm war immer etwas gewesen, dem sie misstraut hatte. Sie war davon ausgegangen, dass das mit Männern eben so war – aber mit Murray war es nicht so.
»Mame, ich will dich nicht hetzen, aber vielleicht werde ich mit geheftetem Saum gehen müssen. Es macht doch nichts, wenn der Saum nicht völlig gerade ist. Das ist nicht meine Hochzeit, und niemand wird mich anschauen.«
»Meine Tochter, und geht zu einer Hochzeit vor Rabbi Honig mit dem Rocksaum voller Stecknadeln? Du musst dich ja nicht zurechtmachen wie ein Filmstar, aber wir brauchen nicht voller Stecknadeln vor die Leute zu treten.«
Mame hatte abgenommen und trug das Haar jetzt hochgesteckt statt in einen struppigen Knoten zurückgekämmt. Sie betrieb neuerdings eine kleine Tagesstätte für Säuglinge und Kleinkinder von Frauen in der Nachbarschaft, die arbeiten gingen. Ganze einunddreißig Dollar durfte ein Ehemann in Übersee von seinem Sold nach Hause überweisen. Davon konnte niemand leben. Außerdem kosteten die wenigen vorhandenen Tagesstätten ein Vermögen.
Mame nahm sechzig Cent pro Tag für Kleinkinder und fünfzig Cent für Säuglinge zuzüglich zwei Fleischmarken. Dafür bekamen die Kinder zwei Mahlzeiten und ein Mittagsschläfchen. Sharon steckte ihre eigenen Kinder dazu und half. Von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends war das Haus mit heulenden und brabbelnden Knirpsen vollgestopft. Mame und Sharon verdienten daran etwa zwanzig Dollar die Woche. Arty war schließlich vom Fisher-Karosseriewerk genommen worden und hatte Nachtschicht, was bedeutete, dass die Kleinen unten bleiben mussten, damit er seinen Schlaf bekam. Arty hatte nichts für das Projekt übrig und sagte, sie gerieten noch mit dem Gesetz in Konflikt, weil sie keine Genehmigung hatten. Ruthie hatte die gesetzlichen Bestimmungen für Wayne County durchforstet, und es war vollkommen ausgeschlossen, dass jemand in ihrer Lage sie erfüllen konnte – oder dass die Frauen aus der Nachbarschaft dann eine so schicke Einrichtung bezahlen konnten.
»Hast du etwas von deinem Burschen gehört?«, fragte Mame mit Stecknadeln im Mund.
»Mame, du bekommst die Post jeden Tag vor mir zu sehen. Ich habe erst am Dienstag seinen Brief vom Samstag beantwortet.« Sie mochte es nicht, wenn Mame sie nach Murrays Briefen fragte, denn dafür bedeuteten sie ihr zu viel. Er war unten im Süden, den sie sich vorstellte als eine Mischung aus Sümpfen, Magnolien, immergrünen Eichen, den Gespensterschleiern aus Spanisch Moos und lakenverhüllten Ku-Klux-Klan-Kerlen, so schlimm wie Hitlers SA-Männer, die Kreuze verbrannten und Juden und Farbige. Jedenfalls ein gefährlicher Ort, fast so gefährlich wie jeder Einsatz, der ihm bevorstand. Murray hatte noch sein Semester beendet und sich dann im Februar zum Militär gemeldet.
»Aber warum gehst du zur Marineinfanterie, zu den Marinesoldaten?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich dachte, wir hätten uns aufs Heer geeinigt, und da möglichst die Fernmeldetruppe.«
»Ich kann’s dir beim besten Willen nicht sagen, aber so ist es nun mal. Ich habe gerade die tiefste Demütigung meines Lebens hinter mir, man hat mich behandelt wie ein Stück Rindfleisch, gepiekt und gepufft. Jetzt denke ich, wenn ich überleben will, was war ich dann für ein Idiot – mich freiwillig gemeldet zu haben und auch noch erleichtert zu sein, ja geschmeichelt, wenn ein Kommisskopp am Schreibtisch zum ANGENOMMEN- und nicht zum ABGELEHNT-Stempel gegriffen hat. Ich stand nackt da, Ruthie, splitterfasernackt, und die Knilche saßen bequem in ihren Uniformen. Ich glaube, ich bin auf den zugegangen, der den besten Eindruck machte. Der von der Marineinfanterie kam mir zackiger vor als die andern. Er schien es ernster zu nehmen. Heer und Kriegsmarine, das waren Offiziere, die rumwitzelten, und als sie mich ansahen, spürte ich nur Verachtung. Ich dachte bei mir, das ist das, was ich will, jemand, der versteht, dass ein Krieg eine ernste Angelegenheit ist, und nicht dasitzt und Witze reißt.«
»Ich habe noch nie von einem jüdischen Marinesoldaten gehört«, sagte Ruthie skeptisch.
»Dann werde ich der erste sein.«
Jetzt war er unten auf Parris Island und überlebte Brutalität und Verachtung, so gut er konnte. Duvey hatte seine Vollmatrosenpapiere genommen und war losgefahren, um auf einem Ozeanfrachter anzuheuern, obwohl seine Kameraden von der Gewerkschaft ihm vorhielten, dass die Arbeit auf den Großen Seen genauso wichtig war. Duvey blieb anderer Meinung. »Wichtig? Bockmist! Keiner verpasst dir vor Toledo ’n Torpedo. Ich komm mir wie ein Feigling vor, wenn ich weiter hier rumlungere.«
»Wenigstens bist du nicht im Heer oder in der Marine und kämpfst an der Front«, sagte Mame.
Duvey lachte. »Nein, auf uns wird nur geschossen. Wir selber schießen nicht viel.«
Trotzdem waren sie alle erleichtert, dass Duvey nicht bei der Kriegsmarine war und in Seegefechten kämpfen musste. Er tat nur, was er schon seit Jahren getan hatte, aber jetzt auf dem Ozean und nicht auf den Großen Seen. Hin und wieder bekamen sie einen Stapel Briefe von ihm, meistens Anekdoten über die Mannschaft, aber dann vergingen wieder zwei Monate, und nichts kam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie ihren Bruder nicht mehr liebte, und beschloss, ab sofort mehr Liebe für ihn aufzubringen. An Tapferkeit hatte es ihm nie gemangelt. Vielleicht hatte sie das nicht recht gewürdigt. Sie hatte sanfte Beharrlichkeit immer mehr geschätzt, aber sanfte Beharrlichkeit war im Krieg keine Grundtugend.
»Mame, es ist zwölf Uhr. Ich muss mich anziehen. Jetzt!«
Mame seufzte. »Schön, gib den Rock her und zieh du dich so weit an, und ich hefte den Saum. Tate wird ein bisschen auf sein Essen warten müssen.«
»Mein einziger freier Tag, und ich muss hungern?« Er protestierte nur der Form halber.
»Ich habe noch nie jemanden sich heiraten sehen.« Naomi saß auf Ruthies Bett und schaute zu.
»Jemanden heiraten sehen. In Englisch heißt das heiraten, ohne sich.«
»Heiraten, ohne sich. Ich möchte sehen, wie das vor sich geht. Kann ich bitte mitkommen?«
Ruthie schwieg einen Augenblick und schlüpfte in ihr bestes Höschen. »Warum eigentlich nicht, zazkele? Zieh dein kariertes Kleid an und kämm dich.« Naomis Anwesenheit verdünnte vielleicht ihren düsteren