Es gibt wohl kaum jemanden, der von sich behaupten kann, von dieser Art des Leistungsdenkens frei zu sein. Mal ehrlich: Wer von uns würde wohl einem verlausten Obdachlosen auf der Straße die gleiche Wertschätzung entgegenbringen wie einem offensichtlich erfolgreichen, millionenschweren Manager?
Wenn wir gefragt würden, welches Leben wir gern führen wollen – das des Obdachlosen oder das des Managers –, würden wir auch nur eine Sekunde lang zögern?
Würden wir die Gegenfrage stellen, wer von den beiden denn glücklicher ist? Mal ehrlich: Höchstwahrscheinlich nicht.
Wir gehen davon aus, dass Glück daraus entsteht, anerkannt zu sein. Wir nehmen, ohne tiefer darüber nachzudenken, an, dass der Manager der Glücklichere ist. Schließlich hat er Geld, Macht, Einfluss und die Bewunderung vieler Menschen. Er ist ganz offensichtlich einer der Gewinner unserer Leistungsgesellschaft. Und auf unserer inneren Werteskala scheint damit merkwürdigerweise auch festgelegt, dass dieser Mensch deshalb wohl auch glücklich sein muss.
Und wir glauben außerdem sofort fest daran, dass auch wir glücklicher wären, wenn wir »mehr« hätten. Mehr von den Faktoren, die uns scheinbar besser, wichtiger und liebenswerter machen. Nein, das muss nichts mit Reichtum zu tun haben. Es gibt eine gigantische Auswahl an erstrebenswerten Zielen in unserem »Leistungsland«.
Vor einigen Jahren ist eine meiner Nichten an Magersucht gestorben. Lilly war als Jugendliche etwas pummelig, dann, in den Teenagerjahren, hat sie enorm abgenommen. Ich habe ihre Gewichtsschwankungen und ihr ganzes Leben nur aus der Ferne beobachtet, wir sahen uns eigentlich nur etwa ein- oder zweimal im Jahr auf Familienfesten. Trotzdem hatte ich irgendwann im Laufe der Jahre die Gelegenheit, ein Gespräch mit ihr alleine zu führen.
»Entschuldige, Lilly«, sagte ich vorsichtig, »du bist ganz schön dünn geworden …«
»Und?«, reagierte sie misstrauisch.
»Warum hast du so abgenommen?«, fragte ich sie ganz direkt.
Und bekam eine ebenso direkte Antwort:
»Weil niemand fette Frauen mag!«
Drei Jahre später ist Lilly tragischerweise gestorben. Sie hat sich zu Tode gehungert. Dahinter stand der übertriebene Wunsch, anerkannt zu werden. Auf Lillys Werteskala hatten sich die Maßstäbe so krankhaft verschoben, dass am Ende nur noch die Frage nach Aussehen und Gewicht zählten.
Die arme Lilly ist natürlich ein extremes Beispiel. Aber eines von vielen, die deutlich machen, wie das Leistungsdenken unsere Herzen verändern und schließlich wirklich kaputt machen kann.
Nein, zugegeben, die meisten Menschen sterben natürlich nicht gleich an den Folgen dieses verdrehten Wertesystems.
Aber sie leben auch nie wirklich.
Viele Frauen nehmen wahre Höllenqualen auf sich, um dem Schönheitsideal der Models auf den Titelseiten der Zeitschriften zu entsprechen, viele Männer sind begieriger hinter einem Porsche und einem »dicken Konto« her, als der sprichwörtliche Teufel hinter einer armen Seele. Wir versuchen vergeblich, unsere inneren Löcher mit Äußerlichkeiten zu füllen. Wir wollen immer mehr, wir setzen alles daran, unseren vermeintlichen Image-Wert zu steigern, und verlieren dabei das Wesentliche, nämlich unser eigentliches Selbst, aus den Augen.
Doch die Wahrheit ist: Je mehr wir uns darauf einlassen, uns von diesen verzerrten Erfolgsmaßstäben dirigieren zu lassen, desto unglücklicher werden wir! Je mehr wir darauf aus sind, »besser« zu werden, müssen wir einsehen, dass es immer jemanden gibt, der noch »besser« ist. Und dieser Jemand wird dann plötzlich zu einem Vor- oder einem Feindbild, das es zu übertreffen gilt.
Immer weiter begeben wir uns damit in eine Spirale, die uns unweigerlich und rasant nach unten zu ziehen vermag.
Ein weiteres, erschreckendes Beispiel dafür ist die steigende Zahl von Burnout-Patienten. Experten gehen mittlerweile davon aus, dass in einigen Jahren 15 bis 20 % der Bevölkerung unter dem Erschöpfungszustand des Burnout-Syndroms leiden werden. Viele dieser Menschen sind, zumindest anfangs, davon getrieben, mehr leisten zu wollen. Sie sind von dem Wunsch gesteuert, mehr erreichen, mehr verdienen, mehr Anerkennung erfahren zu »müssen«. Und noch kurz bevor der Zusammenbruch kommt, glaubt ein Großteil der Betroffenen, glücklich werden zu können, wenn sie nur dieses eine, nächste Ziel erreichen.
Genauso wie Lilly bis zuletzt glaubte, dass nur »dieses eine Kilo zu viel« dem Glück noch im Wege stünde.
Wir haben uns offensichtlich von diesem unsichtbaren Image-Wert-System abhängig gemacht. Es legt fest, wie glücklich wir eigentlich sein »dürfen«.
Unsere Wahrnehmung, unsere Wünsche und unser Handeln sind längst von diesen selbstgemachten Regeln geprägt: Leistungsdenken, Neid und dem Streben nach Anerkennung durch Erfolg.
Die unmittelbare Folge ist, dass viele von uns mit Leib und Seele einer grundsätzlich negativen und selbstzerstörerischen Fühl- und Denkweise zum Opfer gefallen sind:
»Wenn ich nicht das habe, was der und der hat, werden die Menschen mich nicht mögen. Wenn ich nicht so hübsch aussehe wie die und die, werden sie mich nicht lieben. Wenn ich nicht so reich bin wie der und der, halten die Leute mich bestimmt für einen Versager.«
Wir definieren uns meist über das, was die Welt in uns sieht. Und die Sehnsucht, die hinter all dem steckt, und die wir ja alle in uns tragen, ist »einfach geliebt zu sein«.
Wir suchen auf diese Weise unser Glück. Aber in diesem Teufelskreis aus falschen Vorstellungen werden wir es leider nicht finden.
Der Haken bleibt nämlich: Auch wenn wir denken, wir seien damit auf dem Weg zu mehr Glück, führt diese Denkweise des »Mehr-Erreichen-und-Haben-Müssens« in Wirklichkeit zu immer mehr Unzufriedenheit und Unglück, mehr Leere und Unsicherheit. Der Psychotherapeut und Sozialwissenschaftler Erich Fromm hat es in seinem berühmtesten Buch mal auf den Punkt gebracht: Es geht bei der Suche nach dem inneren Glück, der Lebensliebe, gar nicht ums »Haben«. Es geht ums »Sein«.
Dummerweise hat der Wunsch nach der Anerkennung der »anderen« viele von uns längst ängstlich gemacht:
Wir fürchten, nicht mehr dazuzugehören und aus der Geborgenheit der Gruppe herauszufallen. Das, was alle erstreben, »muss ja wohl irgendwie erstrebenswert sein, sonst hätte doch wohl längst mal irgendjemand auf die Bremse getreten«. Oder?
Aber dieser »Irgendjemand« sind wir in Wirklichkeit selbst. Ebenso wie wir ja auch die »anderen« sind (nämlich aus der Sicht aller anderen!). Solange wir also nicht selbst auf die Bremse treten, geht die Fahrt einfach in halsbrecherischem Tempo weiter.
Geben wir es zu: Der Leistungsdruck, unter dem wir uns täglich bewegen und der uns so oft zu zermalmen droht, ist selbstgemacht.
Noch ein kleines Beispiel dazu aus meinem Leben: Als Junge hatte ich einen Freund, Mike, der ein ziemlicher Rabauke war. Er war in unserer Schule sehr angesehen, weil er sich freche Sachen traute, die sonst keiner machte. Er war beliebt, weil er ein »harter Kerl« war und weil alle Respekt vor seinen Respektlosigkeiten hatten. Eigentlich steckte dahinter nichts als Angst. Also war er beliebt, obwohl, oder gerade weil er eigentlich unbeliebt war! Eines Tages überredete er mich, im Schultreppenhaus einen mit Wasser gefüllten Luftballon auf unseren Physik-Lehrer fallen zu lassen. Ich machte mit, weil ich auf die Anerkennung von Mike und den anderen Jungs hoffte. Der Luftballon fiel und platzte mit Karacho auf der Anzugjacke des armen Lehrers. Ich wurde erwischt und bekam mächtigen Ärger. Der Schuldirektor kam sogar zu uns nach Hause und führte ein ernstes Gespräch mit meinen Eltern. Anschließend fragte meine Mutter mich mit sehr besorgter Miene:
»Meine Güte, wieso hast du das nur getan?«
Und ich antwortete kleinlaut:
»Naja, weil Mike es doch gesagt hat.«
Meine Mutter reagierte mit dem weltberühmten Spruch: »Und wenn Mike sagt ›Spring von der Brücke‹,