Wirklich gesungen wird in der Edda wenig. Eine der wenigen Ausnahmen ist der folgende Vers aus der Wöluspa:
Da saß auf dem Hügel / und schlug die Harfe
Der Riesin Hüter, / der heit’re Egdir.
Vor ihm sang / im Vogelwalde
Der hochrote Hahn, / geheißen Fialar.
Den Göttern gellend / sang Gullinkambi,
Er weckt die Helden / bei Heervater,
Unter der Erde / sang ein andrer,
Der schwarzrote Hahn, / in den Sälen Hels.142
Nicht gerade eine beeindruckende Quelle für den Zusammenhang zwischen Gesang und Mythos.
Herrmann ließ sich in Deutsche Mythologie immerhin zu einem ganzen Satz hinreißen:
Feierliche Lieder zum Preise der Götter erklangen beim Opferfeste.143
Dann folgen noch einige Worte über einen angelsächsischen Vers und der folgende Hinweis:
Aber keins von diesen alten ehrfürchtigen Liedern ist auf die Nachwelt gekommen, selbst ihren Inhalt können wir kaum vermuten.144
Ausgehend von dieser Einschätzung könnte man sagen, dass überhaupt keine Aussagen über Gesang und Mythos in der nordischen Mythologie möglich sind.
Auch Kieckhefer kann in Magie im Mittelalter zwar zu den Sagas schreiben, dass Zauberei mit Gesang zusammenhängt. Aber im Kontext wird klar, dass es hier um die Rezitation von Zaubersprüchen, also um sprechen oder rezitieren geht, nicht um Gesang.145
In den Merseburger Zaubersprüchen heißt es immerhin:
da besang ihn Sinthgunt, der Sunna ihre Schwester, da besang ihn Frija, der Folla ihre Schwester, da besang ihn Wodan, der das wohl konnte (…)146
Aber ob dieses besingen ein echter Zauber ist – diese Information gibt die Quelle nicht her.
Die Bibel enthält eine Menge Hinweise zum Thema Gesang.147 Glaubt man dem Nachschlagewerk Bibel von A bis Z, dann taucht das Stichwort Gesang nur zwei Mal in der Bibel auf, und das nur im Alten Testament. 19 Verweise finden sich zum Stichwort Lied, davon nur drei im Neuen Testament, kein Eintrag zu Musik, aber 25 Einträge zu singen (davon immerhin ein Eintrag im Neuen Testament). Auch wenn man daraus klar schließen wollte, dass das Alte Testament wesentlich Musik-freudiger ist als das Neue Testament – immerhin heißt es in Offenbarung 5,9 „und sie sangen ein neues Lied“ –, so ist die Quelle für die Motivation hinter neuen Gesangbüchern doch die ähnlich lautende Stelle im 98. Psalm: „Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“148
Scheinbar gibt es eine Abnahme in der Sangesfreudigkeit vom Alten Testament zum Neuen Testament – wobei weder ein singender Moses noch ein singender Jesus wirklich vorstellbar sind.
Aber es ist nicht die Bibel, welche die Grundlage für die Verwendung für Gesang im Gottesdienst schuf. Immerhin schuf Gott die Erde auch mit Sprache, nicht mit Gesang: „Und Gott sprach: Es werde Licht!“149
Die christliche Gemeinde hat Gesang schon früh benutzt, um ihn im Ritus einzubauen. Gesang war hier Mittel zum Zweck, sollte als Teil der Liturgie Heiligkeit schaffen und durch das gemeinsame Singen Gemeinschaft erzeugen. Die großen Kirchen wurden gebaut, um Gesang zu unterstützen. Rudolf Wendorff schreibt in Zeit und Kultur dazu:
Die langen Nachhallzeiten mittelalterliche Kirchen führen zu einer Klangverschmelzung, erzwingen eine Verlangsamung des Tempos von Rede und Gesang und verstärken damit den Eindruck feierlicher Würde.150
Gesang hat hier keine rein mythische, sondern eine liturgische Bedeutung. Um es ein wenig böse zu sagen: Man singt, weil es gut klingt.
4. Mythische Gegenwart
Der griechische Mythos hat seine Bedeutung als lingua franca einer europäischen Geisteswelt verloren. Wenn sich im 19. Jahrhundert zwei Menschen auf Englisch oder Deutsch über Heidentum unterhalten wollten, so konnten sie auf einem gemeinsam bekannten griechischen Mythenhintergrund aufbauen, der eine Unterhaltung und einen Austausch möglich machte. Heute wird diese Rolle wahrscheinlich eher von den Religionen in Raumschiff Enterprise eingenommen – und man kann heute wahrscheinlich auf einer Party eher über Shakespeare auf Klingonisch reden als über die Argonauten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass der griechische Mythos in der populären Kultur der Gegenwart nur eine Randposition einnimmt.
Das 20. Jahrhundert erweist sich in seinem Umgang mit dem Mythos als treues Kind der Romantik. Man braucht nicht die Nazis bemühen, um die Wiederkehr des nordischen Mythos in die allgemeine Wahrnehmung zu erklären. Klaus Bödl schreibt in Der Mythos der Edda:
Durch Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen ist eine Fülle von Stoffen, Motiven und auch formalen Eigenheiten der altnordischen Literatur in das Bildungsgut vergleichsweise breiter bürgerlicher Schichten eingegangen.151
Ein offensichtliches Beispiel: Die Nähe zwischen nordischen Mythen und dem Herrn der Ringe, aber auch J.R.R. Tolkien und Wagner wird immer wieder bemüht. Tolkien kannte Wagner, lehnte aber Vergleiche zwischen Wagners Ring und dem Herrn der Ringe immer ab:
Both rings were round, and there the resemblance ceased.152
Trotzdem schöpft der Herr der Ringe aber offensichtlich aus den nordischen Mythen – bei der Wahl seiner Rassen, bei der Vergabe der Namen, bei der Verwendung von Menschenbild und Schablonen für mythische Personen. Gerade im Herr der Ringe erlangen die Benennungen eine Sprachmacht, die an den Kenning (eine poetische Umschreibung von einfachen Begriffen) der altnordischen Dichtung erinnert.153
Auch mit dem Gesang seiner phantastischen Welt hat sich Tolkien schon früh beschäftigt; so hatte Tolkien in Zusammenarbeit mit Donald Swann an einem Tolkien Lieder-Zyklus gearbeitet.154 Tolkiens goldene Hochzeit wurde 1966 unter anderem auch mit einer Aufführung von Donald Swanns Liederzyklus The Road Goes Ever On gefeiert – die Lieder wurden dabei von einem gewissen William Elvin gesungen. „A name of good omen!“, wie Tolkien zum Namen Elvin bemerkte.155
Alleine mit der Wirkung von Tolkiens Werk auf die Musik könnte man einen eigenen Vortrag füllen.156 Aber über diesen Umweg ist nordische Mystik im Mainstream angekommen – angefangen von der Musik zu den unterschiedlichen Verfilmungen, beginnend mit Ralph Bakshis Lord of the Rings von 1978, Bo Hannsons Umsetzung vom Herrn der Ringe (1972 auf Englisch erschienen, nachdem das Original 1970 auf Schwedisch erschien), bis hin zu Blind Guardian mit Nightfall in middle earth aus dem Jahre 1998. Sogar Leonard Nimoy – besser bekannt als Spock aus Raumschiff Enterprise – hat sich mit der Ballad of Bilbo Baggins hervorgetan (liegt mir auf einer CD namens Spaced out vor – noch Fragen?).
Wer heute durch die Regale der CD-Läden streift, wird bald feststellen, dass Tolkien nur einen geringen Anteil an der nordisch inspirierten Musik hält. Es gehört fast zum guten Ton, sich auf dem, was ich als Heavy Metal bezeichnen würde – nein, hier bitte keine Gattungsdiskussion über moderne Musik, die verliere ich nämlich – mit Hörnerhelmen, Äxten und am besten noch vor Langschiffen aufzustellen. Wie schön noch die Jahre, als man mit Jethro Tulls The Broadsword and the Beast noch punkten konnte, weil es auf dem Markt eine der wenig nordisch inspirierten Platten war. Ich höre immer noch die Trommeln im Ohr und dazu den Gesang:
I see a dark sail on the horizon
set under a black cloud that hides the sun.
Bring me my broadsword and a clear understanding.
Bring me my cross of gold as a talisman.
Get up to the rundhouse on the cliff-top