Doch spielt Sherlock Holmes zwar meisterhaft die Violine, aber ein singender Sherlock oder ein singender Arsene Lupin sind undenkbar. So gibt es zwar die Tanzenden Männchen bei Holmes, aber keine Hinweise auf Gesang. Der bekannte Detektiv Nero Wolfe beschäftigt sich nur mit Philosophie, seiner Bibliothek, Wein und Essen127; Sherlock Holmes128 nur mit Tabak und der Violine. Gesang findet nicht statt – und der Singende Detektiv ist daher auch eine eher humoristische Fernsehserie als eine echte Bereicherung des Genres.
Anders in der Fantasy. Wir wissen sofort, dass Prinz Eisenherz sein singendes Schwert führt, auch wenn dies Schwert überhaupt nicht singt. Da musste man schon bis Falsches Spiel mit Roger Rabbit (1988) warten, wo ein singendes Schwert mit dem Gesicht von Frank Sinatra vor sich hin fechtet. Aber praktisch kein Fantasy-Roman kommt ohne die Gesänge irgendwelcher obskurer Volksgruppen aus, die nur singend reisen oder ihre Rituale und Zauber gerne mit Gesang untermauern. Ein wenig fühle ich mich bei Elben immer an den 17. Asterix-Band Die Trabantenstadt gemahnt: Die Elben können nur arbeiten, wenn sie singen – die Elben sind vom Arbeiten befreit.
Sprache hat in der Fantasy-Literatur eine ganz eigene Bedeutung. In seiner Doktorarbeit zur Fantasy schreibt Helmut Pesch darüber:
Die Welt der Fantasy ist somit in einem ganz besonderen Sinne eine Welt, die aus Sprache aufgebaut ist; es verwundert darum auch nicht, dass die Sprache die Möglichkeit gibt, diese Welt zu verändern.129
Die Fantasy kennt einen Zusammenhang zwischen Sprache und wahrer Sprache, die wiederum auf die wahren Namen von Dingen hinweist.130 Wer den wahren Namen einer Sache kennt, der kann die Sache beherrschen. Zur Perfektion getrieben hat dies der Science Fiction-Schriftsteller Samuel R. Delany – in Babel 17 (1966) wird eine Sprache als Waffe eingesetzt. Wer etwas in dieser Sprache richtig beschreiben kann, der kann es auch kontrollieren.
Tolkiens Gandalf hat für jede Volksgruppe einen anderen Namen – und da man über ihn nicht mit einem Namen sprechen kann, bleiben seine Manipulationen auch unbesprochen, weil man offensichtlich nicht vom selben Namen (und damit eigentlich derselben Person) spricht. In Ursula LeGuins Erdsee-Trilogie131 geht es darum, dass der wahre Name Magie ist.
Die Phantastik bietet sich an als Spielwiese für den Einsatz von Magie im Gesang – und natürlich führt gerade die Medienpräsenz der Fantasy im Film dazu, dass hier von der Leinwand herab auch elbisch gesungen und auf Soundtrack-Alben in Harfen und mystischen Klängen geschwelgt wird.
Für die Musik gilt das im Wechselschluss auch, aber hier sind die Regale der Musikläden nicht nur voll mit Soundtracks, sondern auch mit allen möglichen heidnischen, mystisch/mythischen und zauberischen Titeln.
Dass der Mythos des Gesangs in der populären Kultur noch vorhanden ist und fröhliche Urstände feiert, ist spätestens seit dem 2. Weltkrieg kein Geheimnis mehr. Schon in den späten 40ern und frühen 50ern des 20. Jahrhunderts machte eine Amerikanerin auf sich aufmerksam, die angeblich Indio-Prinzessin, Priesterin und Sonnenjungfrau in einem war – 1952 schaffte sie es sogar auf das Titelbild des Spiegel: Yma Sumac.132 Sie sang populäre Lieder wie Wimoweh alias The Lion sleeps tonight:
In the jungle, the mighty jungle
The lion sleeps tonight
In the jungle the quiet jungle
The lion sleeps tonight
Sie sang aber auch Zauberweisen und Regenbeschwörungen a la Nina (Fire Arrow Dance) und Wanka (The Seven Winds). Obwohl diese Titel nicht für einfache Vermarktbarkeit sprachen, waren sie doch in einer unverständlichen Sprache gesungen, füllte sie große Hallen, tourte durch die UdSSR, durfte viele Jahre später auf einem Sammlung mit Liedern aus Disney-Filmen ein Stück beitragen (I wonder auf dem Sampler Stay awake) und war im Soundtrack zu The Big Lebowski zu hören (mit Ataypura).
Wem auch dieser Hinweis zu unauffällig erscheint, dem sei eine andere Quelle ans Herz gelegt, die weder als zu unbekannt noch als zu unpopulär gelten darf. In einer Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung der letzten Wochen war folgender Absatz zu lesen. Und wer hier nicht an singende Zwerge denkt, der ist wahrscheinlich deutlich weniger voreingenommen als ich:
»1,31 Meter groß, kurze Arme, sieben Finger – vier rechts, drei links –, großer, relativ wohlgeformter Kopf, braune Augen, ausgeprägte Lippen; Beruf: Sänger.« So beschreibt sich der 1959 geborene Konzertsänger Thomas Quasthoff selbst. Quasthoff dürfte das bekannteste Contergan-Kind Deutschlands sein.133
Wenn jetzt dieser Thomas Quasthoff Odins Meeresritt (von Aloys Schreiber, 1761-1841) in der Version von Carl Loewe (1796-1869) singt134 – ist das dann Zauberei, Fantasy, Mythos oder einfach nur Mainstream?
3. Mythische Wurzeln
Ich will die mythischen Wurzeln nur streifen, da mein Hauptbetrachtungsgebiet ja in der Gegenwart liegen soll. Natürlich schöpfen moderne Mythen aus Sagen & Mythen – die aber wiederum aus Sagen & Mythen schöpfen die dann wiederum aus Sagen & Mythen schöpfen … Der Vorteil bei einer Betrachtung der Gegenwart ist, dass man sich nicht Gedanken über jeden einzelnen Einfluss machen muss, sondern die Dinge in situ betrachten kann. Der Nachteil ist eben, dass einem manche Anspielung, manches Zitat entgeht … womit man eben leben muss. Schon gar, weil die Betrachtung einer Beziehung im aktuellen Zusammenhang Wechselwirkungen mit der Gesellschaft aufweisen kann, die nachvollziehbar sind, während eine historische Ableitung gerne dazu führt, sich in unterschiedlichen Traditionslinien zu verirren, anstatt die tatsächlichen Auswirkungen zu betrachten.
Schon die griechischen Sagen kennen nicht nur die Sirenen, deren Zaubersang Seeleute anzog. Selbst Asterix und die Seinen wussten, dass man sich bei störendem Gesang nur Petersilie oder ähnliches in die Ohren stopfen muss.
Während die Sirenen aber noch klassischer Monster waren, war Orpheus ein Mensch, der mit Gesang und Lyra alle Wesen bezauberte.135 In Franco Serpas Aufsatz Orpheus, der erste Künstler heißt es wenig verständlich:
Orpheus, der mythische Vorfahr der Dichter, ist das Modell, in dem wir heute noch die Identität von Poesie und Musik und ihre ursprüngliche Energie finden können, die dem Menschen eine instinktive Einfühlung in die Natur gab und ihm die Geheimnisse des Todes offenbarte.136
Praktischerweise hatten die Griechen eine eigene Muse für den Gesang, Terpsichore mit Namen.137 Aber hier ist Gesang ein Mittel zur Magie, ein Zugang zum Mythos, aber nicht prägender Bestandteil. Es ist eben nur eine Muse für den Gesang zuständig. Der Kombination Instrument und Gesang wohnt ein Zauber inne, der jedoch nicht auf sie begrenzt ist. Zaubermächtig konnten auch andere Dinge sein, Prophezeiungen wurden nicht gesungen, Zauber eher durch magische Gegenstände oder durch magische Wesen als durch die Kraft des Gesanges gewoben.
Anders liegt der Fall in der nordischen Mythologie. Diese wird oft (unrichtig) als nordische Dichtung verstanden.138 Die Bezeichnungen Edda-Lieder und Lieder-Edda lassen jedoch nicht die Deutung zu, dass diese Epen gesungen worden sind. Weder die Snorra-Edda, jenes Handbuch der Skaldendichtung139, noch die Lieder-Edda waren Sammlungen von Gesangsstücken. Auch wenn in manchen Übersetzungen immer wieder in den Sagas zur Magie gesungen wird – die in der Literatur verwendeten Stichwörter wie Lieder oder Liedfragmente sowie der Gesamttitel Götter- und Heldenlieder140 lassen nicht darauf schließen, dass diese Stücke wirklich gesungen worden sind.
In Simeks Lexikon der germanischen Mythologie sucht man daher die Stichworte Gesang/Singen, Lied und Musik umsonst. Daher bleiben Simeks Hinweise wie der unter Zaubersprüchen unverständlich:
Zaubersprüche wurden aber nicht immer ausgesprochen oder gesungen.141
Was dann