Und dann ist da noch Frau Busch. Eine kultivierte, gebildete Dame. In fünf Sprachen kann sie lesen und schreiben. Sie muss durch eine längere Phase von Einsamkeit und Schmerz gegangen sein. Dabei wurde der Alkohol ihr einziger, ständiger Begleiter, der zeitweise ihren Geist verwirrt. Sie muss wohl einmal sehr verletzt worden sein, Sie hat ein Misstrauen den Menschen gegenüber entwickelt, das ihrer verletzten Seele Schutz vor weiteren Verletzungen und Enttäuschungen bietet. Wenn man jedoch ihr Vertrauen gewonnen hat, so hat man für kurze Zeit eine interessante Gesprächspartnerin gefunden. Wenn sie Zuwendung erlebt, und das Misstrauen überwunden ist, entspannt sie sich. Ihre Erinnerungen kehren zurück. Sie erzählt von Reisen nach Italien. In Florenz hat sie einige Semester Kunst studiert. Ihre Schilderung von der ewigen Stadt Rom ist geradezu so, als würde man mit ihr gemeinsam auf der Spanischen Treppe sitzen und augenblicklich die Atmosphäre spüren. Während des Erzählens erinnert sie sich plötzlich an ihre Tochter, die in Rom lebt. Sie schweigt. Ihr Körper nimmt eine leicht starre Haltung an. Sie scheint müde zu sein. Ihre Augen verändern sich. Der Blick wird leer. Es ist, als wäre die Türe zu dem Gestern nun wieder verschlossen.
Wanda verabschiedet sich.
‚Heute Abend werde ich ihr den Wein bringen, den ich für sie in der Stadt kaufen werde. Ich habe mit ihrem Arzt und mit ihrer Tochter vereinbart, dass sie abends ihr Glas Wein trinken kann. Es wird ihr helfen, einen ruhigen Schlaf zu finden.’
Frau Hubertus hat eine taubstumme Tochter. Bis vor kurzem lebten die beiden Damen zusammen. Nun wollte die Tochter, die durch die Gehörlosensprache, die sie schon als junges Mädchen gelernt hat und dadurch unabhängig wurde, ein eigenes Leben führen. Eine immense Überzeugungsarbeit war erforderlich gewesen, Frau Hubertus Zustimmung zur neuen Lebensform der Tochter zu bekommen. Für Frau Hubertus war die Eingewöhnungszeit sehr schwierig. Aber nun ist sie glücklich, hier zu sein.
„Ein neues Leben hat begonnen. Und wissen Sie, ich glaube, ich habe mich sogar noch einmal ein bisschen verliebt.
Herr Schneider, Sie kennen ihn doch. Der mit dem Hund.
Meine Katze und sein Hund, sie mochten sich vom ersten Augenblick an. Ist das nicht Zeichen von oben?“
Ein verträumtes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel.
Jeden Tag führt Herr Schneider seinen Hund spazieren. Dabei lernt er andere Menschen kennen. Hundebesitzer finden leicht Kontakt. Bei Gleichgesinnten gibt es dann einen kleinen Plausch. Die Katze von Frau Hubertus trägt nun auch ein Halsband beim Spazierengehen. Seit Herr Schneider mit Frau Hubertus und Hund und Katze kommen, hat sich die Schar der Damen um Herrn Schneider bis auf einige wenige, vermindert.
Wanda findet es schön, dass sich zwei Menschen im Alter noch einmal verlieben können.
Frau Barossa war Schauspielerin am Wiener Theater. In ihrer Wohnung hängen an den Wänden ihre Fotos aus „der guten alten Zeit.“ Sie war wohl in Theaterkreisen zu ihrer Zeit, in den 50ziger und 60ziger Jahren, erfolgreich und sehr bekannt. In Zeitschriften, die sie aufgehoben hat, finden sich Fotos von ihr und eine positive Kritik.
Einmal schmückte sie sogar als Hauptdarstellerin das Cover einer österreichischen Frauenzeitschrift.
„Das ist Vergangenheit. Dieser Glanz verblasst sehr schnell und zurück bleibt nur die Erinnerung.“
„Und ein außergewöhnliches, ein erfülltes Leben.“
„Ja, und Einsamkeit.“
„Haben Sie sich nicht ein wenig mit Frau Feterowski angefreundet? Sie kommt auch aus Österreich, ich glaube aus Linz?“
„Sie haben Recht, wir beide verstehen uns und es fühlt sich gut an, in der Heimatsprache miteinander zu reden. Sie ist eine Dame, feinsinnig und mit Humor. Ein Zufall, dass wir uns hier im fremden Land begegnen. Finden Sie nicht?“
„Wunderbar.“
Frau Barossa bittet mich, ihr Champagner mitzubringen, etwas Salzgebäck und Käsewürfel.
„Wenn Frau Feterowski abends kommt, trinken wir manchmal ein Gläschen, nicht immer nur Wasser.“
Frau Barossa ist gehbehindert, aber mit ihrer Freundin geht sie mit Hilfe ihres Rollators bei gutem Wetter in den Garten. Weiter schafft sie es nicht. In einen Rollstuhl mag sie sich nicht setzten „Noch nicht“ wie sie immer wieder bemerkt.
Herr Fiedler ist gehbehindert. „Zum Einkaufen reicht es nicht mehr.“ Daher ist er dankbar, dass Wanda ihm Zeitschriften, fünf Zigarren und „etwas für die Seele“, damit meint er einen guten Cognac und Feodora Pralinen, mitbringt.
Er war Banker, liest „Das Capital“, den „Spiegel“ und manchmal auch den „Stern“.
Diese Besuche sind zu einem Ritual geworden. Zweimal in der Woche geht Wanda in die City um die Einkäufe zu erledigen. Es ist ein relativ kleiner Laden. Hier kaufen die älteren Leute aus dem Ort ein, die sich seit Jahren kennen und so werden dann hier alle Neuigkeiten ausgetauscht.
Wanda kennt hier kaum jemanden und außer einem höflichen Wortwechsel mit der Kassiererin redet sie mit niemandem. Mit ihrem langen Rock, der gelben Bluse und dem dunkelblauen Rucksack auf dem Rücken, zieht sie teils verwunderte, teils fragende Blicke auf sich. So sorgt sie heute wieder mal für ein Gesprächsthema im Ort.
Als sie mit prall gefülltem Rucksack und einer Tasche die Treppe zu ihrem Appartement heraufsteigt, glaubt sie, eine Gestalt vor ihrer Eingangstüre gesehen zu haben. Aber ihre Türe ist abgeschlossen und sie schenkt dieser vermeintlichen Täuschung keinen weiteren Gedanken.
Ganz fest drückt sich Wendelin in die dunkle Nische der gegenüberliegenden Wand. Er hatte so lange gewartet, hier an Wandas Türe, er wollte sie unbedingt sehen und dann einfach ansprechen.
Als er nun ihre Schritte auf der Treppe hört, verlässt ihn der Mut. Alles, was er ihr hatte sagen wollen, ist weg.
Er kommt sich wie ein Dieb vor oder etwas ähnliches. Was ist mit ihm passiert? Mein Gott, das ist aber doch verrückt. Ja, es ist eine verrückte Situation.
Vergessen wir es. Selbstbewusst geht er den Flur entlang zu seinem Appartement. Als er an Wandas Türe vorbei kommt, wird sein Schritt ein wenig unsicher. Das ignoriert er. Dabei hat er heute den ganzen Tag an nichts anderes als an sie, Wanda, denken müssen. Er hatte so gehofft, dass er sie beim Mittagessen sehen würde. Verzweifelt überlegt er, wie er es wohl einrichten könnte, an ihrem Tisch zu sitzen? Jeder hat hier seinen festen Platz beim Essen. Und er hätte es schon überzeugend begründen müssen, seinen Platz zu wechseln. Das Problem ist, dass es nur über einen Tausch möglich ist, an dem begehrten Tisch zu kommen. Denn gerade an diesem Tisch sind alle Plätze besetzt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es ein ausgesprochener Damentisch ist. Es sitzt kein Herr an diesem Tisch. Angestrengt sucht er nach einem überzeugend wirkenden Vorwand, diesen von ihm so begehrten Platz an Wandas Tisch zu ergattern.
Dabei muss dieses Vorgehen sehr behutsam eingeleitet werden. Denn er will keinesfalls Anlass zu Spekulationen geben. Da aber der Alltag hier ziemlich eintönig ist, ist jeder Anlass zu einer Diskussion höchst willkommen. Einen Platzwechsel würde man im ganzen Restaurant sofort bemerken. Ja, es könnte zu einem brisanten Thema werden. Das würde sich niemand entgehen lassen.
Im Augenblick sieht er keine Möglichkeit, in dieser Angelegenheit weiterzukommen. Also nimmt er seinen bisherigen Platz wieder ein. Hin und wieder schaut er zu Wanda. Dabei gelingt es ihm sogar einen Augenkontakt herzustellen. Nun gut. Wenigstens etwas. Nach dem Mittagtisch verlässt er wie zufällig neben Wanda das Restaurant. Sie nimmt die Treppe, wobei alle anderen mit dem Aufzug hochfahren. Er nimmt auch die Treppe. So sind sie für wenige Minuten alleine. Diese Zeit muss er für ein Gespräch nutzen.
„Hat es Ihnen geschmeckt?“, sogleich findet er, dass seine Worte so banal sind wie Wetterfloskeln.
„Ach ja, danke, ich bin ziemlich anspruchslos, was das Essens betrifft. Ich lebe nahezu vegetarisch. Ganz wenig Fleisch, lieber Gemüse und Salat. Zum Dessert nehme ich Obst, wenn es nicht gerade Moussè áu Chocolate gibt.