Mit allen Pflichten und Rechten, die eine historische Bruderschaft pflegte, war sie eine Majestät gewesen. Eine wunderbare Zeit hatten sie gemeinsam erlebt.
Also, nachdem Jacob seinen Weg gegangen war, und sie nun ihren Weg gehen muss, hat sie nun beim Räumen den Schuhkarton gefunden. Die Satinschuhe hatte ihre Nichte bekommen. Sie fand sie „echt geil“ und toll passend zu schwarzen Jeans.
Schon wieder abgerutscht in die Vergangenheit. Dabei hatte die „red box“, wie Wanda den Schuhkarton genannt und auch beschriftet hatte, eine ganz neue, wichtige Funktion.
Also, nun zur red box. Wanda räumt den Karton leer und breitet die Sachen auf eine weiße Decke auf den Tisch. Sie zündet eine Kerze und ein Räucherstäbchen an. Der „Indische Duft“ erfüllt den Raum. Wanda verliert sich ein wenig in mystischen Empfindungen. Dann nimmt sie einen bunten Seidenschal aus Indien und einen ungeschliffenen Rosenquarzstein. Sie entkorkt einen Medòc 2011 und lässt den dunklen Rotwein in das bauchige Glas fließen. Gerüche, gedämpftes Kerzenlicht, das Schattengebilde an der Zimmerdecke hüpfen lässt, und der Rotwein, vermitteln eine entspannende Gelassenheit, ja, etwas Vertrautes. Der Raum ist erfüllt mit positiver Energie.
Wanda öffnet den roten Deckel des Kartons und sagte: „Ich gebe dir den Namen Red Box. Du hütest nun meine Geheimnisse, alle Erinnerungen und Geschehnisse, die der Vergangenheit angehören. Es hat dies alles gegeben für mich und es ist ein Teil von mir, durch das ich zu dem geworden bin, was ich heute sein kann. Das ist gut so. Mein Leben war so reich. Ich habe geliebt, habe getrauert, habe unendlich gelitten, habe die Grenzen der Endlichkeit gespürt, habe Unendlichkeit berührt. Ich habe unentschlossen an Wegkreuzungen gestanden. Habe mich, der Lehre Mahatma Ghandi folgend, für den Umweg entschieden. Ich bin Menschen begegnet, die Freunde wurden und habe sie später aus den Augen verloren. Sie waren sehr wichtig und haben immer noch eine große Bedeutung für mich. Ich habe das Leben gespürt.
Bevor Teile der Vergangenheit zum Ballast werden könnten, lege ich sie ab. Ich übergebe meine Schätze dir, Red Box und du, red box, hütest diese meine Vergangenheit. Denn ich will heute bewusst im Hier und Jetzt leben. Vergangenes kann nun nicht verloren gehen, aber auch nicht belastend werden.“
Am Tisch sitzend, den Kopf von den Händen tragend, spürt sie Stärken in sich aufkommend, die sie nie geordnet, nie hinterfragt, ja bewusst nie wahrgenommen hat. Wanda denkt zurück, erlebt sich in völlig neuem Licht, Abläufe aus ihrem Leben, genau gesagt, „Meilensteine“ in Granit gemeißelt. Langsam, sehr langsam, kommt Erlebtes zurück in ihr Bewusstsein.
So hat Wanda in einer Feierstunde der Red box ihre Aufgabe übertragen. Ein Bild von Jacob. In einer kleinen Fototasche gibt es noch Bilder von Menschen, die ihr sehr nahe gestanden hatten. Ein älterer Herr mit weißen Haaren und blauen, lustigen Augen, einem gütigen Blick. „Mein Kind“, so hatte er Wanda genannt.
Dann ein Herr mit Glatze und tiefbraunen, sehr lebendigen Augen, die sie immer noch voller Leidenschaft anschauen. – Wanda, das ist deine eigene Impression – Eine Vaterposition hatte er für Wanda bedeutet und für einige Zeit auch mehr.
Zu unters ein fast in Vergessenheit geratenes Foto. Pechschwarzes Haar umrahmt ein sonnengebräuntes, jungenhaftes Gesicht. Verträumt schaut Wanda in diese dunklen Augen, die die Unbeschwertheit, die Lebenslust und Sorglosigkeit der Jugend widerspiegeln.
Daneben ein Babyfoto, das einzige, was ihr blieb. Linus, der Australier.
Ihre unvergessene, erste Liebe, damals in Florida. So lange ist es her und immer noch so lebendig.
Ein kleines Kreuz aus Metall und ein weißer Engel.
Ein Seidentuch aus Indien, Kerze und Räucherstäbchen und ein kleiner Spiegel finden nun einen Platz in der Red Box. Sie symbolisieren alles was gewesen ist.
Wandas Augen füllen sich mit Tränen. Beim Blick in den Spiegel sieht ihr ein Gesicht voller Zweifel und Unentschlossenheit entgegen. Beim Lachen zeigen sich kleine Grübchen.
Wie kann ein Mensch nur so viele Gesichter haben? Ein Geschenk des Schöpfers an den Menschen. Die Möglichkeit der unterschiedlichen Gesichter ist in der Schöpfung angelegt.
Dann holt sie die Red Box. Ihre rechte Hand umschließt ganz fest den Rosenquarzstein, der eine beruhigende Wirkung vermittelt. Es sind ihre kreativen Zeiten in denen etwas Neues entsteht. Man könnte es mit einer Geburt vergleichen. Aus dem Suchen ergeben sich neue Gedanken, entstehen klare Formen. Sie hat den Rosenquarzstein noch immer in ihrer Hand, die sich nun leicht öffnete. Sie ist im Reinen mit sich selbst. Plötzlich ist alles ganz einfach.
MÄRCHENSTUNDE
In ihrem Kleiderschrank hat sie nach einigem Suchen das bunte Etwas gefunden. Ein fließendes Gewand ohne Ärmel, das seitlich durch kurze Nähte unter den Armen zusammengehalten wird. Vor vielen Jahren hatte sie diesen Kaftan in einem indischen Shop in Neuseeland gefunden. Kleine cent-große, eingenähte Spiegelchen bildeten den Saum, lassen die schillernden Farben glitzern. In diesem Kleid wird sie heute Nachmittag eine Märchenfee sein. Märchenfee oder weiße Hexe mit magischen Kräften.
Im Aufenthaltsraum breitet sie eine rote Decke auf dem Boden aus. Darauf stellt sie eine flache Schale aus Keramik. Das Innere der Schale ist in glänzendem Blau gehalten. Im Wasser schwimmende Duftlichter geben Wärme und ein gedämpftes Licht. Hinter einem Paravent sieht man einen Lichtkegel, der dem Raum etwas Mystisches verleiht. Welch ein Leuchten in den Augen der älteren Leute, die heute ihr Publikum sind. Diese Augen, die so oft ohne Glanz scheinen, zeigen heute eine ungewohnte Lebendigkeit. Oder scheint es nur so?
Damen und Herren, Männer und Frauen folgen mit ihren Augen jeder Bewegung von Wanda, während diese mit den Vorbereitungen für ihre Märchenstunde beschäftigt ist. Eine erwartungsvolle Spannung liegt in der Luft. Wanda glaubt, eine positive, ans Erotische grenzende Stimmung zu spüren.
Vor der Schale mit den Lichtern liegt ein großes, schwarzes Kissen, das ihr als Sitzplatz auf dem Boden dient. Von hier aus führt Wanda ihre Zuhörer in die zauberhafte Welt des Märchens.
DAS MÄRCHEN VON DEM HÄSSLICHEN ENTLEIN
„Die Erntezeit nahte und die Feldarbeiter brachten das Korn ein. Die ersten welken Blätter fielen von den Bäumen und unten am Fluss saß eine Entenmutter in ihrem Nest unter dem Schilfgras verborgen und brütete ihre Eier aus. Eines nach dem anderen schlüpften die Entenjungen aus ihren Eiern und watschelten unstet dem Ufer entgegen, wo sie in ihrem Element waren. Nur ein Ei blieb still wie ein Stein im Nest liegen und wollte nicht aufbrechen. Es war größer als die anderen. Manchmal kam es der Entenmutter vor, als hätte es einen ungewöhnlichen Farbton. Eine ältliche Entendame flatterte quakend herbei, um der Mutter zu ihrer frisch ausgeschlüpften Brut zu gratulieren, aber dann sah sie das übergroße Ei im Nest liegen, schüttelte den Kopf, dass die Wassertropfen flogen und verkündete:
„Man hat dir ein Putenei untergeschmuggelt, meine Liebe, das sehe ich sofort. Du darfst es auf keinen Fall ausbrüten, denn Puter können nicht schwimmen. Und überhaupt…“ Die alte Ente wusste wovon sie sprach. Auch sie hatte selbst einmal versucht, einen Truthahn auszubrüten.
Aber die Entenmutter hatte nun schon so lange auf dem Ei gesessen, dass es ihr nicht gefiel, all ihre Mühe sollte umsonst gewesen sein. Also blieb sie weiter auf dem Ei sitzen und brütete. Und siehe da, eines Tages erzitterte es und ein großes unansehnliches Geschöpf pickte sich den Weg ins Leben frei. Seine Haut war von rot/blauen Blutgefäßen durchzogen, seine Augen schimmerten rosarot und seine Füße hatten eine ungesunde blässliche, grauviolette Farbe.“ -
Später, es war Frühling geworden, kamen die Dorfkinder zum Teich. Sie sahen es zuerst. Sie schwenkten die Arme, liefen aufgeregt hin und her und riefen immer wieder, bis das ganze Dorf es wusste:
„Oh, schaut doch, schaut, ein Schwan! Ein neuer weißer Schwan ist zu uns gekommen.“
Nahezu eine Stunde dauerte das Märchen.
Nach einer Pause – es herrschte atemlose Stille – sagt Wanda: