Sicher hat es auch bei uns immer wieder mal kräftig gekracht in diesen vielen Jahren, aber die Möglichkeit einer Trennung hat bis letztes Jahr nie im Raum gestanden. Wenn ich bedenke, wie viele Partnerschaften wir schon haben beginnen und enden sehen, wie viele unserer Freunde sich zwischenzeitlich schon einmal getrennt hatten, viele Beziehungen haben jene Belastungsproben der frühen Jahre, die da hießen Bundeswehr oder Auslandsstudium, nicht überstanden. Wir haben beides mitgemacht und uns viele Jahre lang gemeinsam weiterentwickelt, die Horizonte erweitert, unsere beruflichen Ziele erreicht oder auch nicht, jedenfalls ist keiner von uns für den anderen langweilig oder gar lästig geworden. Und doch hat es auch bei uns Bereiche gegeben, die dem jeweils anderen vorenthalten wurden, aus denen er ausgeschlossen wurde, nicht böswillig, das ganz bestimmt nicht, und auch ganz sicher nicht in der Absicht, den anderen zu verletzen oder die Gemeinsamkeit aufs Spiel zu setzen. Das, woran der andere nicht teilhatte, war nicht wirklich wichtig, niemals, bis auf einmal, als sich die Prioritäten zu verschieben schienen, und das war der Punkt, an dem wir beide feststellten, dass es auch bei uns, die wir im Freundeskreis immer als das absolute Traumpaar galten, erhebliche Beziehungsdefizite gab.
Einer der Gründe war sicherlich, dass wir nicht genug geredet haben. Wobei, geredet haben wir immer sehr viel, uns gehen auch nach mehr als drei Jahrzehnten die Themen nicht aus. Wie oft haben wir uns schon lustig gemacht über die anderen Paare, die wir im Restaurant beobachten, die einander gegenübersitzen und sich anschweigen, aneinander vorbeisehen, genauso gut hätte jeder allein für sich essen gehen können, es wäre kaum weniger Konversation da. „Da haben wir’s doch besser“, sagten wir oft und waren uns dabei immer so sicher.
Bis sich herausstellte, dass wir ganz wichtige Bereiche unseres Lebens einfach stillschweigend ausgeklammert hatten. Wir redeten über andere, über Freunde, Familie, unsere Tiere, über das, was wir im Leben gemeinsam aufgebaut hatten, aber viel zu selten wurde über unsere ureigensten Befindlichkeiten und Bedürfnisse gesprochen. Warum auch, da war doch augenscheinlich immer alles in Ordnung, und es war doch viel wichtiger, geschäftliche Strategien zu erarbeiten und unsere vielfältigen Aktivitäten zu organisieren und zu koordinieren. Alles gut und schön, aber wir selber, wir ganz tief drinnen, kamen dabei zu kurz.
Es war gewissermaßen fünf vor zwölf, als wir das bemerkt und das Steuer, wie wir glaubten, noch herumgerissen hatten. Ohne dass irgendwer von außerhalb etwas davon mitbekommen hätte. Ich kenne viele Menschen, die ihre Umwelt an ihren Problemen teilhaben lassen, die sich ständig „aussprechen“ müssen, die immer wieder Bestätigung und Rückmeldung von anderen brauchen, wie oft bin ich diese Vertrauensperson gewesen, für andere, Männer genauso wie Frauen, aber ich selber kenne in persönlichen Krisen nur eine Sorte von Gesprächspartner: meine Hunde. Wenn ich wirklich Sorgen habe, gehe ich spazieren, stundenlang, und halte endlose Monologe, in den letzten Jahren immer an Fräulein Meier gerichtet. Die gibt zwar keine klugen Kommentare dazu ab, aber das Verbalisieren von Gefühlen, Tatbeständen hilft mir, klarer zu sehen und meinen eigenen Standpunkt zu finden.
Richard geht es ähnlich, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass Drei-Buchstaben-Guido so einiges aus unserem Privatleben weiß, wovon mir lieber wäre, er wüsste es nicht. Aber generell ist Richard, so extrovertiert er sonst immer erscheint, in Bezug auf die privatesten Dinge im Leben genauso wenig mitteilsam wie ich.
Wie formulierte es Sven einmal? „Der einzige Mensch, dem du dich anvertraust, ist vielleicht genau derjenige, der dich dann in die Pfanne haut.“ Er sprach wohl aus Erfahrung.
Deshalb wird es für unsere Umwelt ein Schock sein, wenn sie erfährt, dass Richard und ich uns getrennt haben. Bei uns war nach außen hin ja alles immer eitel Sonnenschein, wir schienen immun gegen die Unbilden, denen eine Partnerschaft in so vielen Jahren ausgesetzt ist, das Bild, das wir nach außen transportieren, ist das des immer noch verliebten Pärchens, das sich auch nicht scheut, sich in der Öffentlichkeit ein Küsschen zu geben oder Händchen zu halten.
Wie soll ich all dem gegenübertreten, wenn es wirklich so ist, dass er nicht wiederkommt? Wie werden die Leute mir begegnen? Betroffen, das werden alle sein, geschockt, einige werden ganz sicher auch schadenfroh sein, dass auch uns, die wir heute, in Zeiten, in denen man nicht mehr vom „Lebenspartner“, sondern vom „Lebensabschnittspartner“ spricht, schon als Fossilien aus der Steinzeit gelten, das Trennungsschicksal ereilt hat. Und viele werden ihre Hilfe anbieten, ernst gemeint oder nicht, ich als die Verlassene werde bedauert werden, hintenherum wird viel geredet werden, Richard sei der Böse, aber ganz sicher wird es dann auch heißen: „Es gehören immer zwei dazu“. Dann kommen die Mutmaßungen: „Wie hat sie ihn aus dem Haus getrieben? Hat sie einen anderen oder hat er jemanden oder beide gleichzeitig?“
Ich will das alles nicht. Ich will jetzt wieder einschlafen und morgen früh, oder nachher wie immer von „Quengel quietsch quietsch quengel“ geweckt werden, Richard neben mir, wie fast immer schon vor mir wach. Ich kann mir genau vorstellen, wie er aussieht und sich anfühlt, schlafwarm und noch ein bisschen gefangen im letzten Traum… Na klasse, jetzt hab ich genau das, was ich befürchtet hatte: Ich liege im Bett, es ist drei Uhr früh und ich bin hellwach. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken.
Richard ist quasi ein Einzelkind. Es gibt zwar eine vier Jahre ältere Schwester, aber die ist ein trauriges Kapitel und gewissermaßen das Tabu-Thema der Familie Häussler. Sie war wenige Wochen alt, ein normales und gesundes Kind, soweit man das Mitte der fünfziger Jahre beurteilen konnte, als sie schwere Fieberkrämpfe bekam und ins Koma fiel. Daraus erwachte sie nach einiger Zeit zwar wieder, aber das Gehirn war irreparabel geschädigt, und so blieb Dorothea auf dem geistigen Stand einer Dreijährigen. Die Mutter war wohl völlig überfordert mit der Kleinen und so kam Dorothea in ein Heim für Schwerstbehinderte. Ich weiß nicht, ob alle Familien so reagiert hätten, bei Häusslers jedenfalls galt dieses Schicksal als Schande, das kleine Mädchen wurde mehr oder weniger weggesperrt und seine Existenz weitgehend totgeschwiegen.
Als dann einige Jahre später Richard auf die Welt kam, war man mit ihm natürlich übervorsichtig, Eltern und Großeltern waren ständig um ihn bemüht, und seine Mutter muss einen arg schweren Stand gehabt haben, denn besonders die Großeltern machten sie mehr oder weniger offen für das Schicksal der älteren Tochter verantwortlich, obwohl sie nach heutigem medizinischem Wissensstand ganz sicher nichts dafür gekonnt hatte. Die Großmutter ging sogar so weit, Richard zeitweise zu sich zu nehmen, aus Sorge, ihm könne das gleiche Unglück widerfahren wie seiner Schwester, wenn er bei seinen Eltern bliebe.
Das Sagen in der Familie hatte Richards Großmutter, sie kam aus einer rheinischen Unternehmerdynastie und hatte seinen Großvater kurz vor dem Krieg geheiratet. Der wiederum kam ursprünglich aus einer Arztfamilie, zwei seiner Brüder waren sogar Universitätsprofessoren, sein Opa jedoch konnte kein Blut sehen und verlegte sich deshalb auf das Kaufmännische, zumal er ein phänomenales Zahlengedächtnis hatte. Das hat Richard sicherlich von ihm geerbt, wie er überhaupt sehr viel von seinem Großvater hat und ihn auch als sein großes Vorbild ansieht, mehr als seinen Vater.
Nach dem Krieg leitete der Großvater bis zu seiner Pensionierung Ende der sechziger Jahre eine große Maschinenfabrik in der Nähe von Köln, man lebte auf recht großem Fuß, das Wirtschaftswunder hatte ein Übriges dazu getan, so dass es den Häusslers finanziell recht gut ging. Für Dorotheas Heimunterbringung kam nach Großvaters Tod die Großmutter auf, das war aber auch alles, was in der Familie für dieses bedauernswerte Geschöpf getan wurde. In der ganzen Zeit ist Dorothea vielleicht zehn Mal von ihren Eltern besucht worden, Richard, der sie ja kaum kannte, hat sie vielleicht fünfmal gesehen und ich war ganze zwei Mal mit in dem Heim, in dem sie untergebracht war und fand es