Damit das Ganze nicht ins Wasser fiel, brachten wir - natürlich wir, von allein wären die Jungs doch nicht darauf gekommen - die Idee ins Spiel, dass die Jungen die Lücken in ihren eigenen Reihen durch Geschwister und Freunde von außerhalb der Schule auffüllen könnten. Voraussetzung war, dass die Ersatzspieler alters- und umfeldmäßig einigermaßen zu uns passten.
Und so tauchten an jenem denkwürdigen Dienstagabend im Januar dann neben den üblichen Verdächtigen und einigen nicht sonderlich erwähnenswerten Gestalten zwei Jungen auf, die sofort unser aller Interesse weckten: Richard und Guido. Sie waren um einiges älter als die anderen Jungen, genauer gesagt ist Richard zwei Jahre älter als ich, er und Guido standen damals kurz vor dem Abitur. Während es Guido dann mehr zum Handwerklichen zog und er eine Lehre als Elektriker begann, hatte sich mein Richard sofort zur Bundeswehr gemeldet und machte danach eine Banklehre, und im Anschluss daran ein BWL-Studium.
Eigentlich waren die beiden damit schon zu alt für das von unserer Lehrerin genehmigte Zusatzkontingent, irgendwie waren sie aber doch durchgerutscht und wurden von uns allen gespannt beäugt. Kein Wunder, Guido ist groß, über 1,90 Meter, schlank, und hatte damals wunderschönes schwarzes Haar, Richard ist mit seinen 1,86 Meter nur wenig kleiner, auch drahtig und dunkelblond. Das hat sich in den ganzen Jahren nicht wesentlich geändert, er hatte zeitweilig mal ein paar Kilo mehr auf den Rippen, und die Haare haben sich etwas gelichtet, aber im Großen und Ganzen sieht er immer noch so aus wie damals, das Gesicht reifer, mit ausgeprägteren Konturen natürlich, aber immer noch eine Erscheinung, nach der sich die Frauen umdrehen. Guido dagegen hat leider später als Mann nicht das gehalten, was er als Junge versprach. Er ist kräftig geworden, manche Leute würden ihn schon als leicht korpulent bezeichnen, und die schönen Haare haben sich gänzlich verabschiedet, sprich, er hat heute eine Glatze. Einige Frauen finden das ja sexy, mir gefällt es nicht, aber ich bin ja auch voreingenommen, was ihn betrifft.
Ich war als Teenie eher unauffällig, fand mich allerhöchstens durchschnittlich, in meinem Gesicht waren zwar alle notwendigen Dinge vorhanden, aber irgendwie passte das alles nicht zusammen. Andere fand ich immer viel viel hübscher, Mädchen mit langen lockigen dicken Haaren und einer kleinen Nase und natürlich schlanken Beinen, so hatte man auszusehen, dann kam der entsprechende Status in Klasse und Freundesclique von selbst. Ich dagegen hatte dünnes Haar von undefinierbarer Farbe, heute nennt man das „straßenköterblond“, aber damals hatte ich eigentlich gar keine Haarfarbe. Hinzu kam, dass ich unter Akne und fettigen Haaren litt und außerdem, das war das Übelste an meiner ganzen Erscheinung, bis zu meinem 15. Lebensjahr eine Brille tragen musste. Als ich Richard kennen lernte, hatte ich zum Glück seit ein paar Monaten Kontaktlinsen, und fühlte mich, wenn ich mal gerade meine Pickel im Zaum halten konnte, nicht mehr ganz so hässlich.
Trotzdem konnte ich mein Glück nicht fassen, als im Laufe des Abends doch tatsächlich immer wieder Richard auf mich zukam und mich aufforderte. Wir tanzten, unterhielten uns und er lud mich zu einer Cola ein - andere, gar alkoholische, Getränke waren selbstverständlich tabu an diesem Abend. Ich, die unscheinbare, stille Andrea, hatte das Interesse eines der tollsten Jungen der ganzen Veranstaltung geweckt, ich war absolut hin und weg und ich glaube, ich redete den ganzen Abend ziemlichen Blödsinn. Umso gesprächiger war Richard, er erzählte vom Abi, das in ein paar Monaten anstehen würde, davon, dass er zum Bund gehen würde, aber ihm davor ziemlich grauste, von seiner Familie und als es dann leider Viertel vor zehn war und das allgemeine Zeichen zum Aufbruch gegeben wurde, fragte er sogar nach meiner Telefonnummer! Wir könnten ja dieser Tage mal was zusammen trinken gehen, oder ins Kino, meinte er. Er gab mir auch seine Nummer, schrieb sie auf die Rückseite einer alten Kinokarte und ich war völlig aus dem Häuschen. Wir vereinbarten, dass er sich am darauffolgenden Samstag melden würde, ich sagte, aber nicht vor neun Uhr, denn bis dahin sei ich mit meinen Eltern unterwegs.
Meine Eroberung war natürlich nicht unbemerkt geblieben, und es gab entsprechende Kommentare am nächsten Tag in der Schule. Guido hatte sich den ganzen Abend mit Karin Weber unterhalten, die ich nett fand, mit der ich aber nicht so viel zu tun gehabt hatte bisher. Jetzt gluckten wir beide natürlich die ganze Zeit zusammen und tauschten uns aus: Was hat Richard hier gesagt, wie hat sich Guido da verhalten, werden sie sich denn wohl melden, vielleicht können wir mal etwas zu viert unternehmen. Und überhaupt, ich glaube, ich hatte mich schon an diesem ersten Abend in Richard verliebt.
Meine zu diesem Zeitpunkt beste Freundin hieß Angela. Wir hatten uns in der 8. Klasse angefreundet, nachdem sie sich mit ihrer ursprünglich besten Freundin auf Lebenszeit zerstritten hatte, und ich zur selben Zeit zwangsweise von meiner bis dato besten Freundin, Sybille, getrennt wurde. Sybille übte angeblich einen schlechten Einfluss auf mich aus, hielt mich zum Schwätzen und Schwänzen an und verkehrte mit Jungs, die nie und nimmer Zugang zu unseren Klassenfeten gehabt hätten. All das hatte meine liebe Klassenlehrerin meinem Vater gesteckt und die beiden hatten beschlossen, uns erst einmal so weit wie möglich auseinanderzusetzen. Darüber haben wir beide uns dann tatsächlich zerstritten, und Angela und ich wurden nebeneinandergesetzt. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft wurde dann recht schnell eine Freundschaft, von der beide profitierten. Angela war, im Gegensatz zu mir, ein Genie in Naturwissenschaften und Mathe, während ich in allem, was nichts mit Sprachen oder Geschichte zu tun hatte, die absolute Niete war. Sie sorgte dafür, dass ich meine Noten in diesen Fächern wenigstens im Viererbereich halten konnte, dafür konnte ich ihr in Deutsch oder Englisch helfen. Angela war nicht hübsch im klassischen Sinne, aber sie hatte irgendwie schon damals etwas Edles, im Englischen würde man sagen, ihre Erscheinung war „sophisticated“. Viele Jungs trauten sich an sie gar nicht ran, und ich glaube, dass sie in den Tagen nach dieser bewussten Fete ziemlich neidisch und eifersüchtig war, weil eben ich es war, für die sich der Supertyp Richard interessiert hatte.
Sie wusste natürlich von der Telefonverabredung für den Samstag und wollte umgehend angerufen werden, sobald sich Richard gemeldet hatte.
Der Samstagabend kam heran, meine Eltern und ich waren pünktlich um Viertel vor neun zu Hause, wir saßen vor dem Fernseher, das heißt, die beiden saßen und ich tigerte durch die Wohnung, immer in Hörweite des Telefons. Damals gab es ja noch keine schnurlosen Apparate, unser Telefon stand im Esszimmer. Mit Angela und Karin hatte ich überlegt, dass es taktisch am klügsten sein würde, so nach dem dritten oder vierten Klingeln abzunehmen. Gleich beim ersten oder zweiten Klingeln ranzugehen hätte so ausgesehen, als hätte ich den ganzen Abend neben dem Telefon gesessen, länger zu warten, hätte das Risiko beinhaltet, dass Richard auflegt, weil er dachte, ich sei nicht zu Hause…
Meinen Eltern hatte ich nur erzählt, dass ich einen netten Jungen kennen gelernt hatte, mehr nicht, und schon gar nichts von dem erwarteten Anruf. Meine Mutter hatte natürlich gemerkt, dass irgendwas im Busch war, aber sie fragte nicht, sie war überhaupt genial, immer verständnisvoll, immer auf meiner Seite, ihr konnte man sehr viel anvertrauen. Von ihr bekam ich immer Rückendeckung, im Gegensatz zu meinem Vater, der in jedem Jungen, der sich für mich interessierte - so viele waren es ja nicht, aber einige dann doch schon - einen potenziellen Rivalen und Todfeind sah. Ich weiß noch, dass er sich einmal strikt geweigert hatte, mich nach einer Fete vom Jugendheim abzuholen, weil ich ja dort mit einem Jungen zusammen war. „Soll sie doch gucken, wie sie nach Hause kommt oder sich von dem Typen bringen lassen, ICH jedenfalls fahre nicht.“ Erst als meine Mutter sich Richtung Bushaltestelle aufmachte, um mich halt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abzuholen, bequemte er sich dann doch noch, über die Stimmung im Wagen muss man allerdings kein weiteres Wort verlieren.
Es wurde neun Uhr, es wurde Viertel nach, es wurde halb zehn. und es passierte... Nichts. Ich nahm sogar ein paar Mal den Hörer von der Gabel, um sicherzugehen, dass die Leitung funktionierte, aber gegen zehn Uhr musste ich dann einsehen, dass er nicht mehr anrufen würde. Meine Enttäuschung war grenzenlos, hinzu kam der unweigerliche Gesichtsverlust gegenüber Karin und Angela. Wenn Liebe sooo ist, dann verzichte ich vielleicht besser darauf“, redete ich mir an dem Abend ein. Was wusste ich damals schon von Liebe?
Ein Hahn kräht. Kein echter, sondern diesen Ton hat Richard auf meinem Handy für SMS eingerichtet. Vor einigen Jahren habe ich