Spätestens im Juli 2015 ist klar: In diesem Jahr kommen erstmals mehr Migranten über den Balkan als über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien. Oberst Gerald Tatzgern, Leiter der Zentralstelle zur Bekämpfung der Schlepperkriminalität und des Menschenhandels im Bundeskriminalamt, schlägt am 1. Juli in einer Pressekonferenz Alarm. Mehr als 20 224 Personen hätten bis Mai 2015 illegal die ungarisch-österreichische Grenze passiert, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Doch das ist nur ein kleiner Vorgeschmack. Neun Tage später warnt der türkische Europaminister Volkan Bozkir die EU eindringlich vor einer neuen Flüchtlingswelle aus Syrien. Die Aufnahmekapazität seines Landes sei erschöpft. Zwei Millionen Flüchtlinge beherbergt das Land. Lediglich 70 Millionen Euro Flüchtlingshilfe hat die EU der Türkei zugesagt. Und auch dieses Geld kommt nicht an.
Die Regierungen zwischen Athen, Wien und Brüssel erkennen die Zeichen nicht. Sie stecken die Köpfe in den Sand, anstatt sich vorzubereiten. Kaum jemand rechnet jedoch zu diesem Zeitpunkt auch nur annähernd mit der Dimension dessen, was auf Europa in der zweiten Jahreshälfte zurollt, weder die Spezialisten vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) noch der österreichische Auslandsnachrichtendienst, der im Juni eine Taskforce zur Balkanroute einrichtet. Das Heeresnachrichtenamt (HNA) übernimmt eine Aufgabe, die in den kommenden Monaten unerlässlich sein wird. Es versorgt die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Äußeres sowie das Bundeskanzleramt mit Zahlen und Fakten, mit einem Aviso, welche Migrationsströme in den nächsten 48 bis 72 Stunden zu erwarten sind. Das Ausmaß wird die kühnsten Prognosen sprengen.
Ein perfekter Sturm hat sich zusammengebraut, eine Mischung aus massivem Migrationsdruck und außer Kontrolle geratenen Sogwirkungen. Nach vier Jahren Krieg in Syrien haben viele Flüchtlinge die Hoffnung aufgegeben, bald in ihre Heimat zurückzukehren. Aus Aleppo, das syrische und russische Kampfflugzeuge bombardieren, strömen weitere Schutzsuchende außer Landes. In den Nachbarstaaten hat sich die Situation verschlechtert. Der Libanon hat die Grenzen dichtgemacht. 1,2 Millionen Syrer tummeln sich in dem Fünf-Millionen-Einwohner-Land. Wer es in den Zedernstaat geschafft hat, muss um teure Aufenthaltsgenehmigungen ansuchen. Die Gastfreundschaft neigt sich dem Ende zu. Flüchtlingslager gestattet die Regierung in Beirut nicht, sie hat die palästinensischen Camps noch in schlechter Erinnerung. Im Libanon hausen die Schutzsuchenden in Garagen oder auch unter Plastikplanen zwischen Gewächshäusern im Bekaa-Tal. Die internationale Gemeinschaft lässt sie im Stich. Dramatische Appelle sind verhallt, Hilfsorganisationen haben aus Geldmangel Lebensmittelrationen im Libanon und in Jordanien kürzen müssen. Auch Österreich leistet nur unterdurchschnittliche Beiträge. Viele kommen nun mit dem Flugzeug oder per Bus aus dem Libanon in die Türkei. Noch brauchen sie dort keine Visa.
In der Türkei selbst sind die Flüchtlinge nicht als solche anerkannt. Anfangs haben sie keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, Kinder dürfen nicht in die Schule. Das soll sich ändern, aber erst später. Zu spät. Immer mehr erkennen keine Perspektive mehr für sich und ihre Nachkommen. Außer in Europa. In Griechenland hat sich eine Lücke geöffnet, die nun Tag für Tag größer wird. Die Chancen, auf den gelobten Kontinent zu gelangen, steigen. Die Schlepperpreise sind gesunken. Und die Türkei lässt die Zügel locker, in Izmir treiben die Menschenschmuggler ihre Geschäfte ganz offen, in den Schaufenstern werden Schwimmwesten feilgeboten. Die türkischen Behörden wollen oder können die Migranten nicht aufhalten. Die Türkei wird zum Durchhaus. Und es strömen immer mehr auf die griechischen Inseln. Sie sehen nun: Der Weg ist frei. Freunde und Verwandte schicken erste Bilder aus Deutschland, Schweden oder Österreich. Die Masse macht die Migranten stark. Es kommen immer mehr. 56 Prozent der illegalen Ankömmlinge in Griechenland stammen aus Syrien, 24 Prozent aus Afghanistan, zehn Prozent aus dem Irak, rechnet die Internationale Organisation für Migration am Ende des Jahres vor. Ein ungefährer Richtwert. Denn Unzählige führen gar keine Ausweise mit sich. Viele versuchen nun ihr Glück, auch Pakistaner, Iraner und andere. Es ist leicht, in der Menge unterzutauchen. Es wird kaum noch registriert.
KURZ ENTDECKT
DIE FLÜCHTLINGSKRISE
Als Peter Kitzberger am Sonntag, dem 23. August 2015 nach einer Spritztour durch die mazedonischen Berge von seiner Aprilia absteigt, sieht er drei unbeantwortete Anrufe auf seinem Handy. Die Botschafterin hat versucht, ihn zu erreichen. Außenminister Sebastian Kurz hat sich kurzfristig für den nächsten Tag in Mazedonien angesagt. Kitzberger soll ihn zur Grenze nach Gevgelija begleiten. Kurz hat die Krise lange von sich ferngehalten. In seinem Nebenberuf als Integrationsminister fühlt er sich zunächst nur für anerkannte Flüchtlinge zuständig, nicht für Migration und Asylwerber. Darum kümmert sich das Innenministerium. So sind die Aufgaben verteilt, seit Kurz die Integrationsagenden nach seinem Aufstieg vom Staatssekretär zum Außenminister Ende 2013 ins neue Amt mitgenommen hat.
Auch seine europäischen Kollegen lassen die Finger von der Migration. Auf der Agenda des EU-Außenministerrats am 20. Juli in Brüssel finden sich viele Besprechungspunkte: Iran, Libyen, Tunesien, der Friedensprozess im Nahen Osten, nur eine Angelegenheit sucht man vergeblich: die Flüchtlingskrise. Mitte August reißt Kurz das Thema an sich. Dabei spielen nicht nur außenpolitische Erwägungen eine Rolle. Der Kronprinz der ÖVP hat in den Sommertagen eine starke Unterströmung in Österreich erspürt. Unterhalb der medialen Empörungswellen über die schlechte Unterbringung der Asylwerber im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen wächst in der Bevölkerung ein ganz anderer Unmut – über die Kosten der Sozialleistungen für die wachsende Anzahl von Flüchtlingen. Soll man die Hände in den Schoß legen und diese Stimmungen einfach der FPÖ überlassen? Die Frage hat für Kurz auch eine persönliche Note, eine durchaus ambivalente: Als Kind hat er miterlebt, wie seine Eltern in den 1990er-Jahren bosnische Flüchtlinge aufgenommen haben. Doch jetzt schaltet er auf hart.
Kurz wartet nicht mehr. Er beauftragt Alexander Schallenberg, den Leiter der Stabsstelle Strategie, ein Papier auszuarbeiten. Daraus wird ein Fünfpunkteplan. Am selben Tag, an dem er nach Mazedonien fliegt, schickt Kurz einen Brief an Federica Mogherini, die Hohe Repräsentantin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Kopien ergehen an alle anderen 27 Außenminister der EU und an Johannes Hahn, Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung. Österreich habe in den ersten sechs Monaten des Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Anstieg von 211 Prozent bei den Asylanträgen zu verzeichnen, schreibt er, zwei Drittel der Flüchtlinge kämen über die Balkanroute. Er fordert seine Amtskollegen auf, die Angelegenheit in die Hand zu nehmen und nicht bloß den Innen- und Justizministern zu überlassen. Fünf Punkte schlägt er vor: erstens die Bekämpfung der Ursachen der Fluchtbewegungen in Syrien und Libyen, zweitens die Einrichtung von Sicherheitszonen, Aufnahme- und Asylzentren in Drittstaaten möglichst nahe an den Kriegszonen, drittens einen verstärkten Schutz der Außengrenzen, viertens eine verbesserte Polizeikooperation mit den Westbalkanstaaten und fünftens Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge in der Union. Ähnliches hat auch schon die Kommission präsentiert, nur umgesetzt hat es niemand.
Kurz will die Aufmerksamkeit auf die Balkanroute lenken, deshalb reist er nach Mazedonien. Seit Monaten steckt die ehemalige jugoslawische Teilrepublik in einer schweren Staatskrise. Die sozialdemokratische Opposition hat Abhörbänder an die Öffentlichkeit gespielt: Das ganze Volk kann nun hören, wie korrupt und autoritär das System des einstigen Hoffnungsträgers Nikola Gruevski mittlerweile ist. Da wurde geschoben, geschmiert, gedroht, erpresst und manipuliert, was das Zeug hält. Das Land ist in Aufruhr. Die Flüchtlingskrise kommt dem nationalistischen Regierungschef Gruevski nicht ungelegen. Sie kann ihm innen- und außenpolitisch nutzen, wenn er es geschickt anstellt.
In blütenweißem Hemd und Markenjeans steht Sebastian Kurz an der Grenze in Gevgelija und blickt hinüber nach Griechenland. Er ahnt noch nicht, dass sich hier auch seine Zukunft entscheiden wird. Überall verstreut liegen einzelne Schuhe: neben der Eisenbahnstrecke, unter dem Stacheldraht, im Gestrüpp, auf dem Feldweg. Spuren einer Massenpanik. Vor vier Tagen haben die Mazedonier den Ausnahmezustand ausgerufen und versucht, die Grenze abzuriegeln. Doch das