Christian Ultsch
Thomas Prior
Rainer Nowak
F L U C H T
Wie der Staat
die Kontrolle verlor
INHALT
Kurz entdeckt die Flüchtlingskrise
Merkel und das Mädchen: „Das können wir nicht schaffen!“
II. DIE AUSNAHME WIRD ZUR REGEL
Willkommensstress oder: Ein Land, zwei Welten
III. DIE BALKANROUTE SCHLIESST SICH
VORWORT
Österreich nimmt meistens eine seiner Größe angemessene Zuschauerrolle in der Weltpolitik ein. In der Flüchtlingskrise jedoch fand sich die Republik zwischen September 2015 und März 2016 unversehens im Zentrum des Geschehens wieder, nicht nur als Transit- und Asylland, sondern auch als Akteur auf der politischen Bühne. An wesentlichen Marksteinen der Krise waren österreichische Regierungsmitglieder an Entscheidungen beteiligt, die ganz Europa bewegten und beinahe aus den Angeln hoben. In diesem Buch erzählen wir, wie Österreich und andere Staaten aus humanitären Motiven die Kontrolle verloren und danach monatelang verzweifelt darum rangen, sie wiederzuerlangen. Die Geschichte handelt von sträflicher Kurzsichtigkeit und fiebrigen Stimmungsschwankungen, von nackter Angst und unerschütterlichem Verantwortungsbewusstsein, von großer Hilfsbereitschaft und einer Ausnahmesituation, die Helfer, Staatsdiener und Politiker an ihre Grenzen brachte. Diese sechs Monate haben Europa und Österreich verändert. Das Land ist seither nach rechts gerückt. Die Krise hat politische Karrieren beschleunigt – und zerstört.
Im Fokus unserer Darstellung stehen nicht die Einzelschicksale von Flüchtlingen. Wir haben eine andere Perspektive gewählt. Auf den folgenden Seiten rekonstruieren wir die politischen Abläufe und Folgen des langen Flüchtlingssommers.
Dafür haben wir zwischen Wien, Berlin, Brüssel, Ljubljana, Budapest und Skopje mit Dutzenden Entscheidungsträgern gesprochen: mit Ministern und Staatssekretären, Kabinettsmitarbeitern und Sektionschefs, mit Beamten und Botschaftern, Logistikunternehmern und Koordinatoren, mit Helfern und Vertretern internationaler Organisationen. Manche von ihnen zogen es vor, anonym zu bleiben. Doch Auskunft gaben alle erstaunlich bereitwillig. Ihrer Offenheit verdanken wir neue Einblicke in eine Krise, die immer noch polarisiert.
Prolog
HINTER MERKELS
RÜCKEN
Ende Februar 2016: Sebastian Kurz blickt in besorgte Gesichter. Er hat im ersten Stock des Außenministeriums am Wiener Minoritenplatz 8 seine engsten Berater um sich geschart. Hinter seinem kleinen höhenverstellbaren Schreibtisch hängt eine Collage, die eine auf den Kopf gestellte Europakarte zeigt. Das Kunstwerk, Olaf Ostens „Kaleidoscope“, bringt die Stimmung ganz gut auf den Punkt. Europa steht Kopf. Fast eine Million Migranten sind in den vergangenen sechs Monaten quer durch den Kontinent gezogen. Damit soll nun Schluss sein. Fünf Staaten – Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien – wollen die Grenzen im Alleingang dichtmachen. Die Krise steuert ihrem Finale zu. Nur wie die Geschichte ausgeht, ist zu diesem Zeitpunkt noch offen.
Alles hängt jetzt von den mazedonischen Sicherheitskräften ab. Es steht viel auf dem Spiel, vielleicht sogar die Karriere des ÖVP-Überfliegers. Sebastian Kurz hat volles Risiko genommen und hinter dem Rücken der mächtigsten Frau Europas eine Allianz geschmiedet, um die Balkanroute für Flüchtlinge an der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland zu schließen.