Fröhlich sagte er uns, wo er wohnte, was sein Leibgericht war und dass er einen Wellensittich hatte.
Dann las Frau Lehrerin Pamis Namen vor. Und noch ehe diese sich gesetzt hatte, rief sie mopsfidel: »Hallo, ich bin Pamela, ich mag Früchtekuchen und Brasilien. Ich kann richtig gut backen, und ich habe zwei kleine Brüder.«
Pami war das einzige schwarze Kind in unserer Klasse. Mehr als ihr Aussehen beeindruckte mich aber die Lautstärke ihrer Stimme. Pami wirkte schon damals auf mich nicht so, als würde sie eine Rolle spielen, um Unsicherheit zu verbergen. Ich fühlte mich sofort zu ihr hingezogen.
Als ich dann später an der Reihe war, bekam ich keinen Ton heraus und rührte mich auch nicht.
»Oh, du bist wohl ein bisschen schüchtern«, stellte Frau Lehrerin überflüssigerweise fest.
Ich spürte einen Stoß in meinen Rücken. Hinter mir stand ein rotblonder Junge, der zischte: »Geh doch endlich!«
Ich wusste in dem Moment schon, dass ich diesen Fatzke für immer hassen würde. Verängstigt huschte ich auf meinen Stuhl und versuchte, durch apathisches Starren auf die Tischplatte von mir abzulenken.
»Aileen«, fragte Frau Lehrerin, »möchtest du uns etwas über dich erzählen?«
Ich blieb stumm.
»Was ist denn dein Leibgericht?«
Ich stierte auf meinen Tisch und spürte, wie meine Ohren rot anliefen.
»Möchtest du deinen neuen Freunden nicht Gelegenheit geben, dich kennenzulernen?«
Doch, das wollte ich. Wie gerne wollte ich ihnen erzählen, dass ich mit meiner Oma und meiner Mutter Bea in einer großen Wohnung lebte, dass ich Waffeln liebte, lieber Hosen als Röcke trug, dass Bea es gerade wieder mal versaut hatte, wie sie es nannte, wir deswegen bei meiner Oma Susi eingezogen waren und ich das viel schöner fand, als in dem Haus von Rolf am Stadtrand zu leben. Dass ich viel lieber so rote Haare hätte wie Pippi Langstrumpf als dieses undefinierbare Gewächs auf meinem Kopf, das Susi mit dem Ausdruck Regenbogenhaarfarbe beschrieb, weil von Weißblond bis Dunkelbraun jede Farbe dabei war, wie in einem bunten Salat. Dass ich mich darauf freute, lesen zu lernen, weil ich glaubte, Susi werde es zu anstrengend, mir abends vorzulesen, und weil ich wusste, dass in der braunen Kiste oben auf dem Schlafzimmerschrank Liebesbriefe von meinem verstorbenen Vater lagen, den ich nie kennengelernt hatte.
Nun brannten Tränen in meinen Augen, denn aufgrund meiner Unfähigkeit zu sprechen, meinte ich, die einmalige Chance, Freunde zu gewinnen, zöge an mir vorbei.
»Aileen möchte jetzt nix erzählen, lassen Sie sie doch in Frieden!«, erklärte Pami plötzlich.
»Na gut, machen wir weiter!« Frau Lehrerin spurte und rief den fiesen Jungen auf – Ronny Strunke.
Der pflanzte sich neben mich und verkündete, er möge Düsenjets und Kartoffelpuffer und seinem Papa gehöre eine Baufirma. Während er redete, fixierte ich Pamis Hinterkopf, bis sie es merkte und sich lächelnd umdrehte. Meine Lippen formten ein Danke, und sie zwinkerte mir zu.
Eine Stunde später reihten wir uns in der Turnhalle vor den Eltern und dem Fotografen auf, als Pami unvermittelt meine Hand nahm.
»Möchtest du neben mir stehen?«, hatte sie gefragt.
Ich hatte mit offenem Mund genickt.
»Darf ich dich Aili nennen?«
»Bist du meine Freundin?«, hatte ich ungläubig geflüstert.
»Wenn du magst«, hatte Pami nur gesagt, gegrinst und schließlich nach vorne geblickt.
»Schau, wie du auf dem Bild strahlst, Kind!«, hatte Susi noch Jahre später jedes Mal gesagt, wenn sie das Einschulungsfoto hervorgekramt hatte. »Nie zuvor warst du so glücklich wie am Tag deiner Einschulung.«
Seit diesem Tag war Pami immer da. Wir hatten uns in der Schule irgendwann einfach nebeneinandergesetzt. Sie war in der Hofpause nicht von meiner Seite gewichen, obwohl sie auch bei den anderen Kindern beliebt war. Sie hätte so viele Optionen gehabt, aber aus mir unerfindlichen Gründen wollte sie mich als beste Freundin. Sie wohnte mit ihrer Familie ganz in unserer Nähe, wie ich bald herausfand. Ihr Vater war ein sehr großer, sanftmütiger Kerl, der selten mehr als zwei Sätze hintereinander sprach. Ihre Mutter war eine fröhliche, kurvige Frau, die backen und kochen konnte wie eine Weltmeisterin und das auch tat, um die Haushaltskasse aufzubessern. Zu ihren zwei kleinen Brüdern kam später noch eine kleine Schwester hinzu. Ständig waren Freunde oder Verwandte bei den Crusqs zu Besuch. Die Wohnung ähnelte einem Bienenstock: Das Radio dudelte unentwegt, es duftete nach Honiggebäck, und alle unterhielten sich.
Im Gegensatz dazu glich Susis Wohnung einem Meditationszimmer. Ich verstand erst viel später, dass Pami so gerne bei mir war, weil sie diese Ruhe genoss. Ich hingegen liebte das Leben in ihrem Zuhause, lernte automatisch ein bisschen Portugiesisch und erlebte eine offenkundig sehr glückliche Ehe. Meine Mutter sah, wie wohl ich mich bei Susi und in Pamis Familie fühlte. Und so kam sie auch nicht auf die Idee, mich dort herauszureißen, als sie ein Jahr nach meiner Einschulung zu einem neuen Mann namens Sigmund zog, bei dem sie fast zehn Jahre blieb.
Da ich seit meinem sechsten Lebensjahr mit meiner Oma Susi in ihrer Wohnung lebte, bekam die es später so gedeichselt, dass ich Hauptmieter wurde. Somit erbte ich die Preisbindung, während die Mieten um uns herum explodierten. Ich kümmerte mich um Susi und war bei ihr, als sie ihren letzten Atemzug tat. Da war ich 24. Und nach einer Ausbildung zur Köchin, zeitlich begrenzten Billiglohnverträgen und dem neunten Besuch auf dem Arbeitsamt hatten Pami, die Konditorin geworden war, und ich uns die Frage gestellt: »Krücken wir uns weiter für Fremde ab, oder schinden wir uns ab jetzt für uns selbst den Rücken wund?« Die Antwort hatte nahegelegen.
Die restliche Woche verlief im üblichen Chaos. Morgens kam Pami vorbei und half mir, die Waren in den Transporter zu laden. Eine fuhr aus, die andere machte die Buchhaltung und bereitete die Backstube vor. Gegen ein Uhr kam Lina aus der Schule, machte ihre Hausaufgaben und traf sich dann meistens mit ihren Spielkameraden, während Pami und ich buken, kreierten, kochten und hinterher abwuschen.
Samstagnachmittags stand stets ein Anstandsbesuch zu Kaffee und Kuchen bei Pamis Eltern an, auch diese Woche. Wir bereiteten also die Waren für die noch spärlichen Sonntagsbestellungen vor, sammelten Lina am Spielplatz ein und gingen über den Helene-Weigel-Platz zur Nummer dreizehn. Familie Crusq wohnte nun seit siebzehn Jahren in diesem riesigen Hochhaus. Die Aussicht über Berlin war ihr ganzer Stolz.
Lucrecia, Pamis Mutter, öffnete die Tür. Sie trug ihr dunkelblaues Lieblingskleid, das ihre Kurven nahezu magisch umfloss. Vier Kindern hatte sie das Leben geschenkt, und mit jedem waren ihre Hüften und ihr Busen etwas praller geworden. Ich stellte mir vor, dass sie vor der Schwangerschaft mit Pami ähnlich schlank gewesen war wie diese vor Linas Geburt. Lucrecia hatte ihr Haar zu einem dicken Zopf gebunden, der lustig hüpfte, als sie sich auf Lina stürzte. Die paar Brocken Portugiesisch, die ich seit meiner Kindheit aufgeschnappt hatte, reichten aus, um zu verstehen, was die Crusqs redeten, wenn sie stritten und nicht wollten, dass ich mitbekam, worum es ging. Und wenn Lucrecia ihr einziges Enkelkind herzte und besang, dann verstand ich das auch.
Pamis Vater Rhys kam mit einem Stapel Tassen aus der Küche, besah mit seinen gütigen Augen das Geschehen und verlangte von seiner Frau, sie solle etwas von Lina übrig lassen. Die lachte und wandte sich Pami zu, ehe sie mich um keinen Deut weniger herzlich umarmte. Manchmal nannte sie mich ihre minha filha branca, dachte aber wohl, ich verstand nicht, dass es so viel wie »meine weiße Tochter von einer anderen Mutter« bedeutete. Und ich behielt mein wohliges Herzklopfen, das ich bei diesen Worten verspürte, für mich.
Der große Kaffeetisch war gedeckt, und Pamis jüngere Brüder und ihre kleine Schwester hatten sich um ihn versammelt. Wie üblich steuerten wir Gebäck zum Kaffeetisch bei, und wie üblich wurde an ihm herumkritisiert. Heute fand Rhys die Mandelstangen zu weich, Lucrecia die Küchlein zu trocken, und es wurde darüber diskutiert, was wir hätten anders machen müssen.