Brüning lachte. «Aramäisch, Latein und Griechisch. Was wollen Sie denn übersetzt haben?»
Kappe las ihm die Worte langsam vor.
Es gluckste in der Leitung. «Kappe, werden Sie auf Ihre alten Tage gläubig? Das ist ein Spruch der Katholiken. Er bedeutet: Trösterin der Betrübten, bete für uns!»
«Kein versteckter Hinweis? Keine Geheimsprache?», wollte Kappe wissen.
«Nee, Herr Kollege. Katholikengewäsch, sonst nichts.» Kappe bedankte sich.
Auf einer Photographie war ein Grabstein zu sehen. Der Name Caspar Leiblein war in den Stein gemeißelt. Unter den Namen hatte der Steinmetz eine Art Planwagen in den Block gestemmt.
Kappe schüttelte wieder den Kopf. Daheim war Leiblein Feuerwehrmann. Kappe zog andere Photographien aus dem Stapel Papiere hervor, eine dunkelhaarige Frau mit feinem Gesicht blickte ihn aus resoluten Augen an – offenbar Anna Leiblein. Ein weiteres Bild von ihr und drei Kindern. Eine Photographie von zwei bärtigen Männern in Uniform. Mehrere Briefe Anna Leibleins an ihren Liebsten, aus denen ein feiner Duft aufstieg. Etwa wie die Erinnerung an Sommer, an das Kitzeln des Gräserdufts in der Nase. Hitze, träges Wandern durch Kornfelder. Der erste Tag mit Klara …
Polizeilich gemeldet war Leiblein in der Michaelkirchstraße bei Familie Gehrcke. Über Gehrcke, der als Reichsbanner-Mitglied bekannt sei, gebe es eine Akte, war handschriftlich auf einem Zettel hinzugefügt worden. Leibleins Arbeitserlaubnis für Berlin war vorhanden, die Firma Polensky und Zöllner hatte ihn eingestellt. Er erhielt 55 Pfennige die Stunde, eine Arbeiterwochenkarte zu acht Mark.
Kappe war unschlüssig, was er von dieser Geschichte halten sollte. Er griff zum Hörer, um die Nummer von Karl Bresser anzuwählen, den er von einem früheren Fall kannte. Den Baurat der Höheren Technischen Staatslehranstalt für Hoch- und Tiefbau hatte es vor einigen Jahren aus Köln nach Berlin verschlagen.
«Guten Tag, Herr Baurat. Lange nichts mehr voneinander gehört. Was macht die Gesundheit, alles bestens? Das freut mich. Herr Bresser, ich bin bei laufenden Ermittlungen über den Namen Leiblein gestolpert. Der dazugehörige Arbeiter stammt aus dem Rheinland, aus einem Ort namens Bleibuir …»
«Ein kleiner Ort zwischen Euskirchen und Schleiden», unterbrach ihn Bresser. «Das Dorf kenne ich. Und der Mann heißt Leiblein? Woher stammen die Eltern? … Ach, aus Stotzheim. Na, so was! Eine Rarität.»
«Wieso eine Rarität?», wollte Kappe wissen. «Im Namenslexikon steht, die Leibleins würden den Zigeunern zugerechnet, pardon, den Roma.»
«Werfen Sie das Lexikon weg! Leiblein ist wie Kreitz ein durchaus geläufiger Familienname der Jenischen.»
«Jenische? Nie gehört.»
«Das kann ich mir denken. Es gibt in Deutschland zwischen einhundert- und zweihunderttausend Jenische. In Österreich und in der Schweiz gibt es die auch. Und in Belgien. Es ist eine kleine Volksgruppe. Woher sie kommen, weiß niemand so richtig. Es gab sie schon vor Hunderten von Jahren. Sie sind fahrendes Volk, ernähren sich vom Besenbinden, Bürstenherstellen, Kesselflicken, Korbflechten, Scherenschleifen. Sie leben wie in einer Nische. Oder besser gesagt wie hinter einem Vorhang. Es gibt sie aber. Ihre überkommene Lebensweise gerät freilich immer mehr ins Hintertreffen. Kessel sind so billig geworden, dass sich ein Flicken nicht mehr lohnt. Wer braucht noch Körbe? Daher wandern viele Jenische jetzt ab in die Betriebe.»
«Woher wissen Sie das?»
«Tja, während meiner Zeit im Rheinland bin ich ziemlich viel herumgereist. In der Gegend um Euskirchen fielen mir die vielen Landfahrer auf. Mit denen habe ich mich unterhalten. Ein Jenisch namens Kreitz, ein Gipser, hat meine Wohnung in Köln gestrichen und den Stuck an der Decke erneuert. Der hat mir eine ganze Menge erzählt. Unter anderem, dass sie sich dagegen wehren, mit Zigeunern verwechselt zu werden.»
«Wie reden die miteinander?», wollte Kappe wissen. «Auf Deutsch?»
«Nein. Die Sprache ist eine Art Geheimdialekt. Ein bisschen mittelalterliche Gaunersprache, Jiddisch, manches stammt aus den Roma-Dialekten, hinzu kommen deutsche Begriffe und eigene Wortschöpfungen. Ich ziehe zum Beispiel jetzt an meiner Schmogal , an meiner Zigarette.»
«Also doch mehr oder weniger Zigeuner … ich meine, Roma», hakte Kappe nach.
«Eben nicht. Weder Sinti noch Roma. Leiblein ist Vertreter einer kleinen, fast völlig unbekannten Volksgruppe. Ich glaube, deren Lebensmotto lässt sich auf den Satz einkochen: Arm macht schlau! Überlebenskampf im fahrenden Gewerbe macht wissbegierig und entwickelt alle Fähigkeiten. Arm macht nicht dumm.»
«Das würde erklären, warum unser Leiblein so ein tüchtiger Zimmermann ist.»
«Genau, Herr Kappe.»
«Und Sie sind sicher, dass dieser Leiblein kein Roma ist, kein Pole oder aus sonst einem anderen Volk?»
«Mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit. Jenische sind tüchtig. Die stecken unendlich viel Sorgfalt in die Erziehung ihrer Kinder. Ich fürchte aber, dass es den Jenischen unter der neuen Regierung nicht gutgehen wird. Auf Wiederhören!» Damit legte Bresser auf.
«Was hältst du von dem Leiblein?», fragte Kappe den Kollegen Galgenberg.
Der hatte sich inzwischen die Photos angeguckt, den Militärpass, den Mitgliedsausweis des Zimmererverbands und die anderen Papiere. «Tja, da hast du die freie Auswahl, Hermann. Das ist entweder ein perfider Mörder oder ein anständiger Kerl, dem man etwas anhängen will. Wie siehst du die Sache?»
Kappe überlegte eine Weile. «Leiblein kommt aus einem Kaff, wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, denn reiche Leute schicken ihre Söhne nicht auf die Walz. Er arbeitet offenbar nicht mehr daheim, weil er hier in Berlin besser verdienen kann. 55 Pfennige die Stunde sind nicht berauschend, aber immerhin mehr als in der Eifel. Außerdem hat er sich hochgearbeitet. Ist Zimmermann, Spezialist für Bauen im Sand. Meister. Er hat sehr sorgfältig im Mitgliedsbuch eintragen lassen, wann er die Versammlungen seiner Gewerkschaft besucht hat. Einträge über Arbeitslosenunterstützung gibt es nicht. Es scheint Ordnung in seinem Leben zu herrschen. Im Krieg war er Feldwebel. Das ist einer, der weiter nach oben will …»
«Aber vielleicht bald mit Madame Guillotine Bekanntschaft macht», fügte Galgenberg hinzu. «Er lag fast ein Jahr vor Verdun. Ein Jahr Fleischwolf. Als Festungspionier. Das sind Leute mit Nerven wie Drahtseile, sag ich dir. Die wurden nach vorne beordert, wenn nix mehr ging. Der Krieg hat die merkwürdigsten Typen hervorgebracht. Er ist katholisch, gläubig. Er wohnt nicht feudal im Adlon, sondern zur Untermiete in der Nähe der Köpenicker Straße. Keine schlechte Gegend, aber auch nichts zum Prahlen. Schau dir mal die beiden Männer auf der Photographie an, wie ähnlich die sich sehen. Der links ist Feldwebel mit dem EK I, der andere ist Obergefreiter. Das sind Brüder, und der Linke ist dein Mann, wetten?» Er zeigte auf einen länglichen Kopf mit Schirmmütze. Das Gesicht war eingerahmt von einem Bart mit sich teilenden Enden.
«Wenn Brettschieß oder ein anderer Brauner spitzkriegt, dass der Leiblein ein Jenisch ist, hat der nichts mehr zu lachen. Für die ist der Mann dann von vornherein Abschaum. Für die ist nur noch ein richtiger Mensch, wer eine nationalsozialistische Gesinnung hat. Die würden am liebsten braune Geranien züchten, sag ich dir.»
«Was hat das denn mit der S-Bahn zu tun? Das ist sehr weit hergeholt.»
«Vergiss nicht», erwiderte Galgenberg, «dass die Braunen jetzt auf Teufel komm raus die Arbeitslosenzahl senken wollen. Die drängen die Arbeitslosen aufs Land, auf die Bauernhöfe, damit die nicht mehr das Stadtbild versauen. Es heißt ja auch immer öfter ‹arbeitsscheu› statt ‹arbeitslos›. Und sie wollen ihre Arbeitsschlacht gewinnen. Für die Berliner Arbeitsschlacht brauchen sie Fachleute wie deinen Eifeler. In der Morgenpost stand neulich: Das Wunderwerk der Nord-Süd-Bahn. Das nationalsozialistische Wunderwerk soll fertig sein, wenn die Jugend der Welt in zwei Jahren in Berlin vorturnt.» Kappes Telefon rasselte. Es war der Kriminalassistent, den er