Kappe hatte die Ergebnisse der Gerichtsmedizin studiert, die Zeugen einbestellt und vernommen, die Aussagen verglichen. Nichts Neues. Der Mann hatte gewarnt, geschossen und andere wie sich selber vor Schaden bewahrt. Stutzig machte ihn die Tatwaffe: keine neue Walther PPK, sondern eine Sauer Modell 24, eigentlich ausgemustert, aber bei manchen noch im Gebrauch.
«Wo tragen Sie die alte Sauer?», hatte Kappe den Oberwachtmeister gefragt.
Der hatte die Brauen hochgezogen und geantwortet: «Im Gürtel, wie alle im Sturm.»
Kappe hatte seine Antworten notiert, den Aktendeckel geschlossen und den ganzen Vorgang weitergeleitet. Der Fall schien eindeutig. Und dennoch blieb bei Kappe ein saures Gefühl zurück – das Gefühl, dass etwas an der Geschichte des Oberwachtmeisters nicht stimmen konnte.
Jetzt lag der Fall eines Zimmermanns auf Kappes splittrigem Schreibtisch. Leiblein, Kaspar Michael. Merkwürdiger Name. Er legte eine Mordakte an. Sichtete, was zu diesem Fall vorlag: ein Umschlag mit Unterlagen über Leibleins Beruf und Werdegang, sichergestellt in dessen Zimmer in der Michaelkirchstraße. Ein Protokoll zweier Polizeibeamter. Einige lose beschriebene Seiten Papier. Sonst nichts. Kein Beschluss über eine Einweisung Leibleins in ein Gefängnis, nichts von der Gerichtsmedizin.
Kappe begann zu lesen. Leiblein hat wissentlich und mit Absicht den Tod mehrerer Zimmerleute herbeigeführt. Sie sind wegen seiner Machenschaften in fließendem Sand erstickt. Das Papier war unterschrieben von einem Gießwein, Polier stand ergänzend darunter. Und vom Bauleiter. Dessen Unterschrift, offenbar eilig gesetzt, war unleserlich.
Leiblein habe dafür gesorgt, dass eine Wand der Baugrube am Stettiner Bahnhof einstürzte und Arbeiter unter sich begrub, hieß es weiter. Kappe wusste, dass am Stettiner Bahnhof die neue Nord-Süd-Bahn durch die Stadt gebaut wurde. Die ersten Pläne zu dieser Strecke stammten noch aus der Kaiserzeit. Nun hatte sich der Führer des Vorhabens angenommen.
Kappe blickte zu Galgenberg hinüber, mit dem er sich seit kurzem ein Zimmer teilte. «Leiblein, ein ungewöhnlicher Name, oder?» Der grunzte, stand auf und ging zu einem Schrank, dem er zwei Bücher entnahm. «Schauen wir mal in unserem Wörterbuch der Familiennamen in zwei Bänden.» Er blätterte, las, rieb sich die Nase.
«Da haben wir den Namen. Leiblein. Aha – Landfahrer. Hier steht: Im fahrenden Volk des Rheinlandes und Württembergs anzutreffender Familienname. Die Sippen der Leiblein zählen zu den Zigeunern. Der Name ist ebenfalls in der Schweiz und in Österreich nachge- wiesen.» Er brummte. «So, also Roma soll der Leiblein sein.»
«Roma?»
«Ja, Roma», erwiderte Galgenberg. «So nennen die sich selber.» Kappe schüttelte den Kopf und las weiter in den losen Blättern. Mit blauem Kopierstift war in einer anderen Handschrift hinzugefügt: Die Arbeitsschlacht in Berlin muss gewonnen werden! Wir vermuten, dass Leiblein Deutschland gegenüber feindlich eingestellt ist. Oder dass er im Auftrag von Leuten gehandelt hat, die einen störungsfreien Bau der S-Bahn durch Berlin in Richtung Süden und Anhalter Bahnhof verhindern wollen. Der Mann ist schlau und aalglatt.
So ein Blödsinn, dachte er. Ein Zimmermann – in wessen Auftrag sollte der ein Verbrechen begehen?
Kappe überlegte kurz. Dann griff er zum Hörer, um einen der Kriminalassistenten der Mordinspektion anzurufen. «Wo ist dieser Leiblein … Noch in Moabit? Schaff ihn her. Aber flott!» Er legte auf und widmete sich wieder dem Schreiben.
Auf einem anderen Blatt war zu lesen, Leiblein habe am Abend zuvor mit einigen Arbeitern Streit gehabt. Sie hätten sich gegenseitig voller Wut angeschrien. Der Bauleiter habe dem Streit mit einigen scharfen Worten ein Ende bereitet. Wodurch diese Streiterei ausgelöst worden war, wisse man nicht.
Aufmerksam schaute Kappe sich das Papier an. Ein Blatt wie aus einem Heft gerissen, ein wenig fleckig, liniert, einseitig beschrieben. Mehrere Handschriften standen untereinander, ohne Datum und Ortsangabe. Ebenfalls mit blauem Kopierstift hatte jemand hinzugefügt: Schutzhaft ist anzuordnen. Unterschrieben von einem Maretzke, Obertruppführer. Er stutzte. Ein SA-Feldwebel. Das fehlte noch! Die Braunen mischten bei dieser Ermittlung mit. Das passte Kappe überhaupt nicht.
Er legte die Blätter beiseite und griff zum offiziellen Protokoll. Unterschrieben von Hauptwachtmeister Schneider und Wachtmeister Neufeld.
Am 20. Juni gegen fünf Uhr am Nachmittag ereignete sich auf der S-Bahn-Baustelle am Stettiner Bahnhof eine schwere Verschüttung, der mehrere Arbeiter zum Opfer fielen. Trotz sofortigen Herbeieilens der Polizei aus dem Abschnitt 31, der Feuerlöschpolizei und mehrerer Sanitäter aus der Charité konnten zwei, möglicherweise noch mehr Arbeiter nicht gerettet werden. Die exakte Zahl der Opfer konnte nicht festgestellt werden. Ein weiterer Arbeiter starb an den Folgen seiner Verletzung noch am Unfallort. Die Namen der bisher bekannten Opfer lauten: Paul Schnicke, Ewald Karnovski, Herbert Kaschke.
Der auf der Baustelle anwesende Zimmerer Kaspar Michael Leiblein wird von verschiedenen Zeugen beschuldigt, den Tod dieser Bauarbeiter in die Wege geleitet zu haben. Heimtückisch habe er seine Kollegen in die Baugrube gelockt, nachdem er diese unsachgemäß abgesichert hatte. Der Unglücksablauf: Die Arbeiter kamen in einer Tiefe von rund zehn Metern um. Aufgrund einer Erschütterung ist die Wand der Grube beschädigt worden. Fließsand schoss mit so viel Druck ein, dass der Boden der Grube einsank. Mehrere Männer verschwanden. Der Bauleiter beschrieb die Situation als vergleichbar mit einem Waschbeckenabfluss, der in einen Siphon mündet. So, wie das abfließende Wasser alles mit in den Siphon zieht, reiße Fließsand alles mit in den Untergrund.
Anschließend wurde umständlich beschrieben, was einzelne Personen gesagt hatten. Auch hier wurde der Zimmerer Leiblein noch einmal beschuldigt – offenkundig vom Polier. Leiblein selbst war offensichtlich nicht befragt worden. Eigenartig, dachte Kappe.
Säuberlich war vermerkt, wer an den Rettungsarbeiten beteiligt gewesen war und wo man gesucht hatte. Während der Rettungsarbeiten habe Leiblein sich teilnahmslos gezeigt und nicht mitgeholfen.
Das Protokoll führte die Namen des Poliers und des Bauleiters sowie mehrerer Arbeiter auf, die den Hergang erläutert hatten.
Welch ein Durcheinander! Hier jede Kleinigkeit aufgeführt, dort Wichtiges nicht gefragt. Das Werk von Anfängern? Kaum. Auch unter diesem Papier stand in blauem Kopierstift: Maretzke, Obertruppführer. Und: Muss in Schutzhaft!
Auch das Protokoll wanderte auf die Seite. Kappe schüttelte die Papiere aus dem braunen Umschlag. Galgenberg hatte seinen Stuhl herangezogen, um zuzuschauen. Leibleins Ausweispapiere: Am 6. Juni 1887 in einem Ort in der Eifel mit dem seltsamen Namen Bleibuir geboren. Verheiratet mit Anna Leiblein, geborene Busch. Drei Kinder. Von Beruf Zimmerer. Der Vater hieß Caspar Leiblein, geboren in Stotzheim bei Euskirchen. Als Beruf war Scherenschleifer angegeben. Die Mutter stammte aus Bleibuir. Geburtsname Laufenberg.
Mitglied Nummer 105 496 im Zentralverband der Zimmerer und verwandter Berufsgenossen Deutschlands, später Mitglied im Nachfolgeverband Baugewerksbund. Beide Gewerkschaftsbücher waren mit Wachskordel zusammengebunden. Eine Reiselegitimation war vom Vorstand der Zimmerer für die Jahre 1912 und 1913 erteilt worden. Die Stationen waren Hamburg, Bremen, Leipzig, Goslar und Straßburg. In Bremen war der Mann Spezialist für Bauen im Sand geworden. Abonniert die Arbeiterpresse , stand im Mitgliedsheft. Stärkt die Kampforganisation der Arbeiter.
Kappe brummte. Das Kerlchen aus der Eifel war ganz schön viel herumgekommen. Er griff nach einigen Schriftstücken, über denen jeweils das Wort Zeugnis stand. Ein Zeugnis der Bremischen Baubehörde und eines der Firma Gewerkschaft Mechernicher Werke. Welch ein komischer Name, dachte Kappe. Und ein Zeugnis aus Sachsen. Ausnahmslos wurden Leibleins Kenntnisse und Fähigkeiten als Zimmermann hervorgehoben. Sein Meisterbrief und ein Vermerk, wonach er selbständig Bauzeichnungen anlegen und lesen könne, ergänzten die Zeugnisse.
Außerdem befand sich in der Mappe Leibleins Militärpass: Vier Jahre Krieg im Westen, Feldwebel in einem elsässischen Regiment, Träger des EK I und der Georgsmedaille. Ein knappes Jahr vor Verdun, im Herbst 1918 vom Soldatenrat entlassen. Im Militärpass lag ein Heiligenbildchen. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm, beide gekrönt und in gesteiften Kleidern. Kappe las die Widmung