»Yes Sir!« sagte der Schwarze.
Der Beamte setzte seinen Stempel unter den Vermerk im Paß. Der Mann ging und ich rückte vor. Bald fand auch ich mich auf dem sandgelben, öden Platz vor den Güterschuppen am Hafen. Der Weg in die Berge führte am Polizeirevier vorbei zu einer Reihe von Läden und dem Postamt. Die Sonne stand steil im wolkenlosen Himmel und es war, als tauchte ich in eine Glut. Der Schwarze irrte auf dem Platz umher wie ein Insekt unter einer Glocke. Im Schatten einer Palme parkte ein Taxi und ich verhandelte mit dem Fahrer über den Preis zu Raymonds Gasthaus, und als der Schwarze erklärte, er wolle auch dorthin, halbierte der Fahrer die Summe. Ich war schon eingestiegen, da pfiff es plötzlich schrill über den Platz. Jäh wandte sich der Schwarze um, und dann sahen wir zwei Uniformierte vom Polizeirevier auf uns zukommen. Der Schwarze erstarrte, blickte flehentlich zum Fahrer, der schüttelte den Kopf und ließ den Motor nicht an. Schon waren die Uniformierten am Taxi. Einer packte den Schwarzen, und noch ehe er seinen Paß zeigen konnte, war er festgenommen. Die Handschellen blinkten in der Sonne, als sie ihn abführten. Der Fahrer schwieg, ich schwieg, und beide sahen wir den Mann zwischen den Polizisten im Revier verschwinden. Von hinten sah er noch schmächtiger aus, irgendwie geschrumpft, und es war, als schleiften sie eine Stoffpuppe durch die Tür.
»Pech«, sagte der Fahrer und setzte den Preis neu fest.
»Eine freundliche Insel«, ließ ich ihn wissen.
»Mag sein, oder auch nicht«, sagte er. »Kommt immer drauf an, was einer hier einschleppt.«
»Zum Beispiel?«
»Mann«, sagte der Fahrer, »fragen Sie das nicht. Ist nie gut, wenn einer zuviel fragt.«
Und in zehn Tagen auf Tortola in der Sonne erfuhr ich nicht, warum sie den Schwarzen eingesperrt hatten – ging es um Rauschgift oder was sonst?
Bahnhof Friedrichstraße
Berlin 1956
Der S-Bahn-Zug hielt lange, länger als normal, und zweimal schon hatten wir die Ansage durch die Halle tönen hören: »Letzter Bahnhof im Demokratischen Sektor.« Niemand sprach, die Fahrgäste blickten unruhig, und dann sahen wir die beiden Blauuniformierten durch den Wagen gehen. Sie mußten sich durchzwängen und in der Stille klangen ihre Stimmen laut. Stumm hielten die Leute ihre Ausweise hin, und irgendwo raunte jemand »die Schinder«, doch wer das raunte, war nicht auszumachen. Noch standen die Türen offen, noch rollte der Zug nicht und jetzt zwängten sich zwei Koffer schleppende Männer nach draußen und tauchten in die Menge auf dem Bahnsteig unter.
Die Frau mit dem Kinderwagen bei der vorderen Tür wirkte versunken und in sich gekehrt. Es war, als gingen sie die Vorgänge nichts an. Mechanisch wippte sie den Kinderkorb und strich dabei mit der Hand übers Deckbett. Ebenso mechanisch holte sie ihren Ausweis aus der Handtasche und streckte ihn zur Kontrolle vor. Sie war nicht mehr jung, konnte die Mutter eines Babys kaum sein. Auch dem Blauuniformierten fiel das auf. Ich sah, wie er stutzte, ihren Ausweis genauer prüfte als die anderen, ihn durchblätterte und dann beschlagnahmte.
»Bitte kommen Sie mit.«
Die Frau reagierte nicht. Es war, als verstünde sie nichts. Sie wippte den Korb und starrte ins Leere. Im fahlen Licht des Wagens sah sie blaß aus, blasser jetzt, wie mir schien, und ihr Gesicht wirkte versteinert.
»Bitte kommen Sie mit.«
Wieder raunte es »Schinder« von irgendwo. Zu erkennen war noch immer nicht, wer das sagte. Die Frau blieb stehen und hielt den Kinderwagen, als wolle man ihn ihr entreißen.
»Verlassen Sie den Zug!«
Die Frau drehte den Kopf weg, zog die Schultern ein, sie wehrte sich, ihr ganzer Körper wehrte sich, kein Wort aber kam ihr über die Lippen. Ich sah den Uniformierten in den Kinderwagen greifen, und dann hörte ich, hörten wir alle die Frau schreien. Ihr Schrei gellte durch den Wagen.
»Hände weg!«
Noch stand der Zug. Und dann sahen wir den Uniformierten etwas weißes, gefiedertes aus dem Kinderwagen zerren. Die Gans, die er am Hals hochhielt, baumelte schwer in seiner Hand.
»Verlassen Sie den Zug!«
Als wir endlich fuhren, sah ich, wie alle, zum Bahnsteig hinaus.
Langsam glitten wir vorbei an der Frau mit dem Kinderwagen und dem Mann in der Uniform, und schon nach wenigen Metern waren sie nicht mehr zu erkennen.
Truppentransporter Dunera
Nach Australien 1940
Unten, in den Laderäumen des Schiffes, das uns über die Meere von Liverpool nach Australien brachte, sahen wir keine Sonne. Wir hausten im Zwielicht der Notlampen, und die Luft war schal, verbraucht vom Atem zweitausend Internierter. Als nach zwei Wochen die Posten einen von uns an Deck holten, und er nicht wiederkam, schätzten wir ihn glücklich. Er war ein stiller junger Mann aus Wien, mit blauen Augen, blondem Kraushaar, und daß er Sänger war, ein Schlagersänger, der sich Ray Martin nannte, bedeutete mir nichts. Ich hatte den Namen nie nennen und ihn nie singen hören. Für mich war er nicht mehr und nicht weniger als einer, der unser Schicksal geteilt hatte – die Stürme der Biskaya, den Angriff des deutschen U-Boots, und ich gönnte ihm sein Glück und vergaß ihn. Was er da oben trieb und was ihm das einbrachte, ging mich nichts an. Er fehlte und das genügte mir. Dann aber kam es anders.
Als die Posten zum ersten Mal nach all den Wochen über uns die Luken öffneten, vor Takoradi war es, an der südafrikanischen Küste, wir endlich freier atmeten und die Sonne sahen, hörten wir ihn singen. Oben an Deck sang er für die Soldaten, die uns angebrüllt, geschlagen und beraubt hatten – auch mich.
South of the border, down Mexico way – er sang, klangrein und melodisch, und das Lied, ein Schlager jener Zeit, drang in uns ein. Sehnsuchtsvoll hörten wir hin, und das Lied trug uns fort von dem Schiff in andere Welten, trug mich zurück zu einer Nacht im Zelt und dem Mädchen mit dem Kofferradio im Zelt, jener Schönen, die ich bewunderte und nicht zu berühren wagte – South of the border, down Mexico way. Er sang, Ray Martin aus Wien, und seine helle, schöne Stimme klang uns im Ohr.
Plötzlich schlägt einer mit dem Blechnapf gegen einen Stahlträger, dann ein zweiter, ein dritter, ein vierter, bald tun es viele, bald ist da keiner mehr, der nicht mit Blechgeschirr auf Stahl schlägt. Unzählige Blechnäpfe hämmern auf Stahl, das Schiff dröhnt, und der Lärm übertönt die Stimme des Sängers. Wir schlagen auf Stahl, schlagen und schlagen, und urplötzlich wird es dunkel über uns, dunkel am hellichten Tag, und wir ahnen, alle ahnen wir, daß fortan die Soldaten die Luken nicht wieder öffnen und wir ins Zwielicht der Notlampen verdammt bleiben werden bis hin zu australischen Küsten.
Prinz-Albrecht-Straße
Duisburg 1989
Da steht er, und ich erkenne ihn gleich, obwohl er Arbeitskleidung