Die Zeit berühren. Walter Kaufmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walter Kaufmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783955145002
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trug sie die Wollmütze eines Matrosen, der Hans hieß, so hörten wir, und daß er vor Tagen schon fort war, nach Hamburg auf der Santa Isabel. So stand sie also allabendlich an dem Pfosten und wartete, daß einer von unserem Schiff sie nahm. Doch keiner hörte auch nur mehr als flüchtig hin, wenn sie leise mit ihrer dunklen Stimme rief: »Komm, Seemann, komm!« Die Worte mochte ihr dieser Hans beigebracht haben, oder einer wie er, und sie kannte auch andere – ob sie wußte, wie obszön die waren? Sie rief sie, aber es verfing nicht. Die Männer ließen sie stehen, und manchmal nur, wenn sie bittend die Geste des Rauchens machte, steckte ihr einer von uns Zigaretten zu, hin und wieder auch etwas Eßbares, ein Stück Käse, ein Stück Wurst, Brot. Doch mit aufs Schiff brachte sie keiner in der langen Hafenliegezeit – am Ende auch Davidoff nicht, unser Eisbär, der Kühlmaschinist. Wohin er mit ihr verschwand in jener Nacht, behielt er für sich – irgendwohin. Es war nach Mitternacht, als wir alle an Bord gingen, nach einer heißen Tanznacht in der Florida Bar am Hafen, heiß auch für Davidoff, und anzunehmen war, daß es ihm reichte, wie es uns allen reichte, so kurz vor dem Auslaufen nach Europa. Wir sahen das Mulattenmädchen an ihrem Stammplatz stehen und uns mit einer Zigarettenschachtel zuwinken, als böte sie davon an. Nur Davidoff merkte auf, löste sich von uns und ging zu ihr hin. Sie klopfte zwei Zigaretten auf der Schachtel fest, gab Davidoff eine, und dann standen sie beide da und rauchten. Wir zogen weiter, kletterten das Fallreep hoch, und wer von uns, zum Pier hinunterblickend, Davidoff und das Mädchen im Dunkel untertauchen sah, wird sich gefragt haben, ob er es schaffen würde, vor dem Auslaufen wieder an Bord zu sein. Er schaffte es. Er kam barfuß das Fallreep hoch, nur in Jeans und ohne Hemd – und lachte. Wir blickten uns an und sagten nichts. Als das Schiff sich löste vom Pier, langsam im Schlepptau Fahrt machte, sahen wir das Mulattenmädchen unten am Pfosten stehen – im ersten grauen Licht des Morgens stand sie da und winkte uns nach. Wir winkten zurück. Besonders Davidoff.

      Badeanstalt

      Duisburg 1929

      Langzeitgedächtnis – sechzig Jahre zurück, und ich hänge an der Angel im Becken der Badeanstalt, fünf Jahre alt und furchtsam, mir tönt es in den Ohren, Widerhall von den Fliesen, »Eins, zwei – drei”, aber ich enttäusche den Bademeister, strample wie ein junger Hund und schlucke Chlorwasser. Mir ist übel von dem Wasser und ich will ins Trockene, soll aber weiter mit dem Gurt um den Bauch gehorchen. »Eins, zweieiei, drei!« Ich kann den Mann nur hören, nicht sehen, das aber reicht – ich sehe ihn mit den Ohren. Die Brüllstimme ist mächtig, und Herr Nowak hat einen mächtigen Brustkorb, Kraftarme, seine starken Beine und sein Hintern sitzen prall in der weißen Hose. Zehn Minuten an der Angel dehnen sich für mich zu zehn mal zehn Minuten aus, und noch schrecklicher ist mir der Gedanke, daß ich es gleich, sehr gleich ohne die Angel wagen muß. »Eins, zwei …« Kopf hoch, das Kreuz durchdrücken, und bei »drei!« Arme und Beine strecken. Das Wasser trägt, ich fühle, daß es trägt. Oder ist es der Gurt, immer nur der Gurt? »So, und jetzt an den Beckenrand«, höre ich den Mann, »festklammern am Beckenrand«, und klick! Ab ist der Gurt von der Angel, und ich hänge frei am Rand, und was, wenn ich loslasse! Die Arme schmerzen schnell, aber ich halte fest, und wieder strample ich wie ein junger Hund, und was Herr Nowak da brüllt, dringt nicht in mich, und dann passiert es – ich gleite ab! Strampelnd gleite ich ab, und unter Wasser jetzt ist mir, als fülle sich mein Kopf mit Wasser, ich komme nicht mehr hoch und statt mit Luft füllen sich Nase und Schlund mit diesem ekligen Wasser, und panikartig spüre ich ein AUS, ich sinke und sterbe und gebe mich auf, auch noch als ein Ruck im Gurt das Sinken anhält und ich hochgehievt werde aus dem Wasser, das mir aus Mund und Nase rinnt.

      Dunkelkammer

      Melbourne 1948

      Vierundzwanzig war ich, young man about town, Hochzeitsfotograf, der Samstag für Samstag kreuz und quer die Stadt bereiste – Toorak, Malvern, Richmond, Collingwood, Fitzroy, wohin immer mich neuerdings der Chef in dem eigens dafür gemieteten Taxi schickte. Auf den Fahrten begleitete mich damals eine junge Frau, Irene McKenzie, die wochentags in einer Radiofabrik am Fließband arbeitete, Samstags aber frei und niemanden verpflichtet war. Verhalten, schweigsam saß sie im Taxi und sah den Hochzeiten zu, sah zu, wie ich die Jungvermählten unterm Konfettiregen ablichtete, strahlende Paare auf den Stufen der Kirchen, und selten sagte sie mehr dazu als »schön, zu schön!« So verstrichen für sie jene Nachmittage, von Kirche zu Kirche, Hochzeit zu Hochzeit, und da sie stets pünktlich um dreizehn Uhr im Flur vor der Dunkelkammer zur Stelle war, mußten ihr die Ausflüge zu einem Bedürfnis geworden sein. Andeutungen, die sie schon bald nach unserer Begegnung über ein Krebsleiden und dessen Folgen gemacht hatte, ließen in mir nie mehr als freundschaftliche Gefühle aufkommen. Dabei war sie eine schöne Frau. Braune Augen belebten ihr blasses Gesicht, das von dichtem dunklem Haar umrahmt war, ihr Mund und ihre Stirn waren wohlgeformt, nur ihr Ausdruck blieb freudlos, selbst wenn sie lächelte. Harsche oder gar gehässige Worte über andere kamen ihr nicht über die Lippen, immer suchte sie in ihren Mitmenschen nur Gutes. Auf Freundlichkeiten aber, Anerkennendes über ihr Aussehen, reagierte sie bitter. »Laß es gut sein«, wehrte sie dann ab, »wer will mich schon. Welcher Mann will eine solche Frau.«

      Sie litt, das war deutlich, – wie auch nicht, nach einer so schweren Operation, die sie körperlich entstellt hatte, und ich, der davon wußte, hatte es mir gleich angewöhnt, nie schöne Worte zu machen. Dafür war sie mir dankbar und unsere Ausflüge blieben ungetrübt.

      Allmählich weitete sie diese Ausflüge aus, trennte sie sich auch nach den Hochzeiten nicht von mir, sondern wartete auf einem Stuhl in der Dunkelkammer, bis meine Arbeit dort getan war. Im rötlichen Schein der Lampe, schwach umrissen nur und kaum zu sehen, überwand sie ihre Hemmungen, war sie gesprächiger, klang ihre Stimme heller und froher. An jenem Spätnachmittag aber schwieg sie beharrlich, sagte kein Wort, bis ich schon glaubte, sie gekränkt zu haben. Spannung lag im Raum. Plötzlich war mir, als spürte ich ihre Nähe. Lautlos war sie mit ihrem Stuhl an meinen Arbeitstisch gerückt, saß nun neben mir im Dunkel – und berührte mich. Verstört ließ ich den Film, der mir um den Hals hing, zu Boden gleiten und, mehr aus Mitleid als anderen Gefühlen, zog ich sie zu mir herüber, gab sie aber sogleich wieder frei. Ein Zittern ging durch ihren Körper, das spürte ich noch, und dann begrub sie ihr Gesicht in den Händen.

      »Wie konnte ich glauben, du würdest es auch nur einen Augenblick vergessen«, hörte ich sie sagen.

      »Was vergessen?«

      »Als ob du das nicht wüßtest«, flüsterte sie heftig, und sagte nichts weiter, bis wir die Dunkelkammer verließen und auseinander gingen. Am folgenden Samstag fehlte sie. In der Dunkelkammertür aber steckte ein Zettel: »Leb wohl auch weiter – Irene McKenzie.«

      Telefonzelle

      San Francisco 1972

      Wir waren uns auf der Cable Car begegnet, jenem Museumsstück einer Straßenbahn mit Trittbrettern und offenen Abteilen, die gemächlich von den Höhen der Stadt in die Tiefe gleitet und dabei Schaulustigen eine prächtige, ständig wechselnde Sicht auf Straßen, Häuser, die Bucht und das Meer bietet. Ich aber sah nur sie – jung, blond und von jener natürlichen Frische, die einen an Sonne, Wind und Wellen denken läßt und an gemeinsame Stunden am Strand. Ich sprach sie an, und wohl auch, weil ich fremd war und von weither kam, hörte sie geduldig hin. Ein wenig spöttisch wurde sie erst, als ich ihr sagte, was mich in diese Stadt geführt und worüber ich zu berichten hatte.

      »Und da fällt Ihnen nichts besseres ein, als wie die Touristen Cable Car zu fahren !«

      »Weil ich Sie suchte«, sagte ich ihr. »Dazu kommt, ich wohne im Chinesenviertel, und da fahren wir ja hin.«

      »Sie, nicht ich«, erwiderte sie schnell. »Ich hab anderswo zu tun.«

      »Was wohl?«

      »So fragt man Leute aus.«

      Die Straßenbahn hatte angehalten. Leicht berührte sie meinen Arm und sprang übers Trittbrett auf die Straße.

      »So long, stranger.«

      »Werden wir uns wiedersehen?«

      Sie stutzte einen Augenblick, wies dann lachend die Straße hinunter auf eine Telefonzelle