Wie recht sie haben sollten.
Ich blättere weiter. Manche Notiz ist nur ein Stichwort. Aber die Worte formen sich zu Bildern in meinem Kopf. Ich kann Mutter förmlich sehen, wie sie an den Herd in unserer Küche geht und mit dem Flederwisch, einem Handbesen aus einem Gänseflügel, das Ofenloch gründlich von der Asche und den Schlacken des Vortrages reinigt. Sie zerknüllt etwas Zeitungspapier und legt Kienspäne und Maisstängel darauf. Dann zündet sie das Feuer an. Es brennt und knistert sofort und gibt ihr das Gefühl von Wärme und Wohlbehagen. Ich erinnere mich an unseren Küchenherd. Die Herdplatte aus Gusseisen enthielt verschieden große Ringe, die man entfernen konnte. So konnte man einen Topf direkt über das Feuer stellen. Die Milch für das Frühstück war dann im Nu heiß. An der rechten Seite des Herdes befand sich ein Wasserbehälter. Mutter füllte ihn mit Brunnenwasser auf und hatte so immer heißes Wasser zum Spülen. Es gab in meinem Geburtshaus weder Strom noch fließendes Wasser.
Meine Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Vor mir liegen die Zettel voller Notizen und die Fotos, die in diesem Ordner aufbewahrt sind. Ich bin froh, dass ich im Laufe der Jahrzehnte alles gesammelt habe, was ich erfahren konnte. Gerade jetzt ist der Inhalt für mich besonders kostbar.
Auf einem alten Briefumschlag, den ich als Notizzettel benutzt habe, finde ich weitere Aufzeichnungen zum Tag meiner Geburt: Vater war aufgestanden, betrat die Küche, umarmte Mutter und grüßte sie mit „Guten Morgen, mein Herz“. Meine Mutter bekam glänzende Augen, wenn sie von diesem Morgenritual erzählte. Sie setzten sich an den Küchentisch, den meine Mutter schon gedeckt hatte. Ein donauschwäbisches Frühstück bestand aus hausgemachter, würziger Wurst, Speck oder selbst geräuchertem Schinken und natürlich selbstgebackenem Brot. Der Küchentisch war noch blitzblank und neu, das letzte Stück, das mein Vater für ihren jungen Hausstand geschreinert hatte. Mutter nahm den großen Laib Brot, den sie am Vortag gebacken hatte. Sie machte mit dem langen Brotmesser drei Kreuze auf die Unterseite und schnitt drei kräftige Scheiben ab.
Ich erinnere mich noch genau an die Gewohnheit meiner Mutter. Bevor wir der neuen Religion beitraten, dankte sie immer auf diese Art für das tägliche Brot.
Der Tag meiner Geburt war wohl ein Tag wie alle Tage, ein Morgen, wie viele Morgen mit meinen Eltern. Doch das, was normal war, sollte sich schon bald grundlegend ändern. Nur ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg. 1941 musste mein Vater an die Front. Meine Mutter sorgte allein für uns Kinder.
Nach dem Ende des Krieges waren wir gezwungen, das Land zu verlassen. Der Neuanfang, geprägt von den Erfahrungen der Flucht, gestaltete sich mehr als schwierig. Und plötzlich lebten wir als Fremde unter den eigenen Landsleuten und wurden zur leichten Beute für die Versprechungen der Zeugen Jehovas. Nun galt das Kreuzzeichen als „heidnischer Brauch“ und musste unterlassen werden. Wie schade.
Das Wort „heidnischer Brauch“ wurde für mich zu einem „Trigger-Wort“. Trigger nennen die Psychologen einen Schlüsselreiz, der unter anderem durch Konditionierung, also hundertfaches Wiederholen, eingeprägt werden kann und zu einem ganz bestimmten Verhalten führt. Trigger sind Sinneseindrücke, an die man sich erinnert und die bestimmte erlernte oder antrainierte Gefühle oder Verhalten reflexartig aufkommen lassen. Das können aber auch ganz schwache Signale sein, die man im Zusammenhang mit einem ganz bestimmten Ereignis erlebt hat: ein Geruch, eine Geste, ein Geräusch, ein Wort, ein Bild im Zusammenhang mit schweren seelischen Verletzungen und Ängsten.
Mit dem Verweis auf „heidnischer Brauch“ wurden uns Traditionen und Feste aus unserem alten Leben genommen. Geburtstage, Fastnachtsbräuche, Weihnachten, Ostern, aber auch Rituale, wie Prost zu sagen und Anstoßen, Amulette, Sonnwendfeuer, ein Grablicht anzünden, bei einer Trauerfeier Kerzen verwenden, einen Geburtstagskuchen mit Kerzen schmücken und vieles, was Menschen zusammenführt zu Geselligkeit und sozialer Bindung, musste mit dem Hinweis auf „heidnischen Ursprung oder Brauch“ abgelehnt werden. Wir hatten das strickt zu meiden.
Geschichtliches
Ich erinnere mich an einen weiteren verborgenen Schatz. Vor vielen Jahren schenkte mir eine Tante das Buch des Heimatforschers Michael Hutfluss, das er dem Geburtsjahrgang 1939 widmete: das Ortssippenbuch Stanischitsch, Batschka 1896 – 1938. Es enthält die gesamten Einträge aus den Matrikelbüchern von Stanischitsch von 1788 bis 1938. Auch meine Geburt ist darin verzeichnet. Damals schätzte ich das Geschenk nicht sonderlich. Ich erwartete ja den baldigen Untergang des gesamten weltlichen Systems der Dinge, wie der Weltuntergang in der Wachtturm-Sprache genannt wird. Aber jetzt interessiert mich die Geschichte meines Geburtsortes sehr. Aus diesen Aufzeichnungen erhalte ich nun Auskunft über meinen Stammbaum.
Die ersten Donauschwaben folgten offenbar dem Aufruf der Kaiserin Maria Theresia, Siedler für ihr südliches Herrschaftsgebiet anzuwerben. Zunächst wurde das Banat mit den Ankömmlingen besiedelt.
Maria Theresia beendete ihr Siedlungsprojekt 1772. Joseph II. setzte mit einem Erlass 1781 die Siedlungspolitik seiner Mutter fort. Er erlaubte ausdrücklich auch Protestanten, in seinem Gebiet zu siedeln. Damit hielt er sich an die Vereinbarungen, die mit dem Westfälischen Frieden getroffen worden waren, und garantierte Religionsfreiheit.
In dieser Zeit trafen die ersten Siedler aus deutschen Landen in Stanischitsch ein. Der Name des Ortes ist serbischen Ursprungs: Stanìsić. Obwohl der Ort in Ungarn liegt, gehörte dieses Gebiet schon im 18. Jahrhundert zur Donaumonarchie. Im Buch verwende ich durchgehend die deutsche Schreibweise Stanischitsch. Sie ist die jetzt in Deutschland gebräuchliche unter den ehemaligen Ortsansässigen.
Zu den ersten Ankömmlingen in Stanischitsch gehörte offenbar auch ein Ehepaar namens Paul und Hedwig Englert mit ihrer 3-jährigen Tochter Emma. Bis zum Jahr 1786 gab es schon 100 von deutschen Neubürgern gebaute Häuser. Die Zuwanderer waren vorwiegend katholischen Glaubens. Für die Protestanten gründete man eine eigene Ansiedlung.
Vor meinem inneren Auge zieht eine vertraute und doch fremde Landschaft vorbei, während ich weitere Einzelheiten über die Ereignisse rund um die Entstehung meines Geburtsortes lese: Er liegt im sogenannten Bajaer Dreieck. Es ist südliches Grenzgebiet zwischen Ungarn und dem heutigen Serbien zwischen Donau und Theiß. Das Bajaer Dreieck ist ein Landstrich mit einer wechselvollen Geschichte.
Als im Jahre 1713 die junge Habsburgerin Maria Theresia zur Thronfolgerin Karls VI. ernannt wurde, war die Region ein dünn besiedeltes Brachland. Die Osmanen waren zwar besiegt und vertrieben, aber das Land war auch entvölkert. Es wurde hauptsächlich als Weideland für die staatlichen Kriegspferde genutzt.
Maria Theresia hatte ehrgeizige Pläne. Sie wollte ihre Besitzungen gewinnbringend verwalten. Dazu brauchte sie Bauern für die Besiedelung und sie musste ihre Staatsgrenzen gegen feindliche Übergriffe schützen. Dafür brauchte sie Soldaten. Im Vertrag von Belgrad von 1739 konnte Maria Theresia für dieses Gebiet den Frieden sichern. Es war nun fester Bestandteil der österreichisch-ungarischen Monarchie. Sie bestimmte, dass die Amtssprache fortan Deutsch sei.
Am 20. März 1763 erließ die Kaiserin das Edikt zur Besiedelung dieser Besitzungen. Ihr Interesse galt vorwiegend dem fruchtbaren Landstrich Banat. Sie erklärt ihre Absicht, „die ‚ fundi contributionalis‘“ (Einnahmequellen) zu vermehren und Rekruten zu verpflichten. Daher seien “deytsche Colonisten katholischen Glaubens“ zu bevorzugen. Gegen “Raitzisches“ Volk (serbische Einwohner) bestünden Bedenken. Damit waren vermutlich die Vertriebenen aus den Gebieten Barasca und Dautovo in Ungarn gemeint. Die Ungarn hatten sie vertrieben, weil sie in diesen Städten selbst siedeln wollten. Die Vertriebenen flüchteten in die ungarische Pusta und begannen, neue Häuser zu bauen. Möglicherweise hieß der Anführer dieser Gruppe Stani. Daraus entstand das Dorf Stanischitsch. Bereits nach fünf Jahren lebten dort 88 serbische Familien, die das ausgedehnte Weideland der Kriegspferde auch für ihr Hornvieh und ihre Schafe nutzten.
Zu dem Zeitpunkt, als Maria Theresia ihr Siedlungsprojekt beendete, hatten die Serben ihre Häuser bereits westlich der späteren Hauptstraße errichtet. Dort hatten sie genügend Wasser für ihre Brunnen und Schilfrohr für die Dächer. In der „Großen Gasse“ standen ihr Gemeindehaus und eine kleine, niedrige Bretterkirche,