Auch Da Vinci wohnte der Hinrichtung bei. Er war oft auf diesem Platz, um die Grimassen der Sterbenden zu wissenschaftlichen Zwecken zu studieren.
Der Delinquent krümmte sich und stöhnte, denn das Elixier verursachte ihm grausame Magenkrämpfe. Zwei Schergen packten ihn unter den Armen und hielten ihn aufrecht, während ein Priester mit erhobenem Kruzifix aus der Bibel rezitierte. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich über den Horizont, als man dem Todeskandidaten die Kapuze überstreifte und die Schlinge um den Hals legte.
Da Vinci nahm das Barett vom Haupt. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Der Henker betätigte den Holzhebel, der die Falltür entriegelte, sodass Donadini nach unten fiel. Der Strang straffte sich und das Genick brach mit einem Knacken. Ein Raunen ging durch den gaffenden Pöbel. Manch einer bekreuzigte sich. Als der Gehenkte leblos am Seil pendelte, schnitt man ihn ab, warf ihn auf einen Heukarren, breitete ein Tuch darüber und überführte den Leichnam in die Werkstatt da Vincis.
Die Folge der Klopfzeichen an der mit Beschlagnägeln versehenen Tür drang wie eine Melodie an Da Vincis Ohr: Milana! Er wusch sich rasch das Blut von den Händen und erinnerte sich daran, wie er damals als Siebenjähriger mit einem Holzreif im Garten der Loggia gespielt hatte, als sie in Gestalt eines schwarzen Milans vom Himmel herabstürzte, mit schwingenden Flügeln Auge in Auge vor seinem Gesicht schwebte, um ihn aus dem Schnabel in den Mund zu füttern. Seitdem war die Gestaltwandlerin Milana seine geheime Mäzenin und Lehrerin, die ihn in Alchemie, Naturmystik und anderen Wissenschaften unterwies.
Er trocknete sich die Hände mit einem Tuch und öffnete die Tür. Milana trat ein, die Haarfülle durch ein Perlennetz gebändigt. Leonardo umarmte sie herzlich und genoss die Duftwellen von Amber und Moschus die sie verströmte. Er trat zwei Schritte zurück und breitete die Arme aus: »Meine Teuerste! Hätte ich Euch Eurem Willen nach zu den Untersuchungen des Grabtuchs im päpstlichen Hof beigezogen, würdet Ihr jetzt ganz gewiss in einem Verlies der Engelsburg schmoren.«
»Wieso meint Ihr?«
»Allein Euer Vergehen, ein so verteufelt schönes Weib zu sein, hätte den Kierikern gewiss gereicht, in Euch eine Ketzerin zu sehen. Mal ganz abgesehen von Euren Zauberkünsten …«
Milana lachte: »Ihr und Eure Galanterien, Leonardo! Dabei seid Ihr der Häretiker von uns beiden. Wüsste der Pontifex davon, dass Ihr in der Bruderschaft der Johanniter seid, hätte ich in der Engelsburg zweifellos Eure Gesellschaft genießen dürfen.« Ihr Blick fiel auf den mit Wunden übersäten Leichnam Donadinis auf dem Tisch. Dessen Gesicht war verfärbt und um seinen Hals zog sich ein blutunterlaufener Striemen. Die Magierin zog eine Braue hoch und fragte: »Wie brachtet Ihr diesen Mann dazu, das Elixier aus freien Stücken einzunehmen?«
»Man schloss einen Kontrakt mit ihm ab. Nachdem er eingewilligt hatte, tischte man ihm letzte Nacht ein Festmahl auf. Den Nachtisch reichte man ihm in Form einer jungen, in ihrem Metier höchst bewanderten Edelkurtisane. Nun, Ihr versteht schon …« Da Vinci strich sich den Bart.
»Verstehe«, sagte Milana und blickte auf Leonardos Leinenhemd, das voller Blutspritzer war. »Doch was genau hat es damit auf sich?«
»Als ich dem Pabst die Einzelheiten meiner Entdeckungen auf dem Grabtuch erläuterte, wurde sein Blick ein schwarzer Abgrund und sein Gesicht totenblass. Einer alten Prophezeiung zu Folge, durften dem Messias nach seinem Tode die Glieder nicht gebrochen werden. Aber die Blutspuren bezeugten, dass dies der Fall war.«
»Pabst Leo ist nicht dumm«, räumte sie ein. »Er weiß, kein Mensch kann mit gebrochenen Beinen auf Erden wandeln – nicht einmal der Messias. Diese Eure Entdeckung hat das körperliche Auferstehungsmysterium Christi hinweggefegt, doch ist ja genau dieser Ostermythos das Fundament der Kirche.«
»Eure Schönheit wird allein durch die Schärfe Eures Verstandes überflügelt.«
»Und weshalb lässt die Kirche dieses Tuch nicht einfach verschwinden?«
»Weil die Ausstellung des Grabtuchs, wie der Pontifex mir sagte, vor dem Beginn meiner Untersuchungen in ganz Italien verlautbart wurde. Schon bald soll es in Turin den Gläubigen gezeigt werden. Natürlich rechnet Leo X. mit hohen Geldspenden, man weiß ja von seinem aufwändigen Lebensstil …«
Sie nickte. »Und nun begehrt der Papst von Euch eine Fälschung, damit niemand die geheimen Details auf dem Tuch sehen kann.«
»Ihr sagt es.«
»Leonardo, bedenkt, dass Ihr nun ein gefährdeter Mitwisser seid. Und ist der Klerus erst im Besitz Eurer Fälschung …«
»Wird mein Leben gewiss nicht mehr die dreißig Golddukaten wert sein«, ergänzte Da Vinci, »die dort auf dem Tisch für Eure Dienste bereit liegen. Nehmt den Beutel an Euch, bevor ihr geht.« Mit diesen Worten durchbohrte er ein Handgelenk des Toten. »Ihr kennt wohl meine Vorliebe für versteckte Auftritte in meinen Werken«, führte er vergnügt fort. »Ich werde der falschen Reliquie meine Gesichtszüge verpassen. Welch ein Vergnügen, wenn Abertausende Gläubige mein Antlitz anbeten werden, in der irrigen Annahme, es handle sich um das Abbild Christi.«
»Euer Sinn für Humor in Ehren. Aber eine solche Eitelkeit kann Euch leicht den Kopf kosten.« Milanas Blick schweifte über zahlreiche am Boden verstreute Studien zur menschlichen Anatomie, um dann ein Weilchen auf dem unvollendeten Gemälde der Felsgrottenmadonna zu verharren.
»Euer Elixier ist wunderbar. Wie lange hält es sein Blut noch flüssig?«, fragte er.
»Etwa bis Sonnenuntergang.«
»Das dürfte reichen«, murmelte Da Vinci zufrieden. »Dann kann ich in Ruhe das Eisenoxid mit den roten Farbpigmenten mischen und zur Anwendung bringen.«
Milana hatte den Geldbeutel in die Saumtasche ihres Kleids gesteckt und sagte: »Ich muss gehen. Lucrezia erwartet mich.« Sie war direkt hinter ihn getreten und raunte ihm ins Ohr: »Wisst Ihr, Ihr seid ein ganz schön blutrünstiger Kerl …«
Er lächelte, und als er sich umwandte, huschte sie gerade lautlos zur Tür hinaus.
Zehn Tage später strömten Tausende Pilger in die königliche Kapelle des Johannes-Doms von Turin, um vor dem ausgestellten Grabtuch mit dem geisterhaften Abdruck eines Gekreuzigten niederzuknien und zu beten. Ihre Spenden flossen geradewegs in die Kassen des Vatikans.
Eines Nachts saß Da Vinci in Gesellschaft seiner Schüler Salai, Melzi und Boltraffio in einer römischen Taverne. Kurz zuvor hatte ein Kurier des Papstes dem Maler das vereinbarte Honorar von einhundertfünfzig Golddukaten überbracht. Grund genug, ein bisschen zu feiern. Die Schankmagd mit den Rundungen einer aus Holz geschnitzten, weiblichen Galionsfigur schenkte ihnen Wein nach. Ihr Mieder stand in der Mitte tief geschlitzt offen, ihr schöner Busen zeigte sich den Männern in voller Pracht. Die Runde war ausgelassen, man aß, trank, lachte und redete laut durcheinander. Ab und zu lauschten alle den Fabulierern und Lautenspielern.
Gegen Mitternacht trennte sich der Meister von seinen Schülern. Nach einem kurzen Marsch erreichte er seine Werkstatt. Als er die Tür aufschließen wollte, vernahm er gedämpfte Stimmen hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie sich ihm zwei Männer näherten. Im hellen Mondschein glänzten ihre Körper wie Silber. Messerklingen blitzten in ihren Händen auf.
Keiner der drei Männer bemerkte den schwarzen Punkt, der vom Himmel herab auf sie zueilte, immer größer und beängstigender wurde, sich in gewaltige Flügel auswachsend, zwischen denen plötzlich ein spitzer Vogelschnabel vorstieß. Blitzschnell hackte die scharfe Schnabelspitze den beiden Meuchlern in die Augen, sodass sie aufbrüllten und mit den Händen vor dem Gesicht auf die Knie fielen.
Stark erregt schaute Da Vinci zu, wie sich der Raubvogel zu einer schemenhaften Gestalt wandelte, sah Milanas Gesicht