»Ach, ich wollte mich bloß erkundigen, von wem das Bild auf Zimmer 207 stammt.«
Sie zuckte die Achseln. »Das weiß man nicht. Mangels Signatur konnte es bislang noch keinem Künstler zugeordnet werden. Wieso fragen Sie?«
»Na ja, es gefällt mir. Ich finde, es ist vortrefflich gemalt.«
»Sind Sie vielleicht Kunstsammler?« Sie stützte sich mit den Händen auf dem Tresen ab.
Lächelnd winkte er ab. »Nein. Aber dieses Bild könnte mich vielleicht dazu verleiten, mit dem Sammeln von Kunstwerken anzufangen. Verkaufen Sie es mir?«
»Wissen Sie, obschon wir keine Expertise davon besitzen, und eine genaue Datierung dadurch nicht möglich ist, stufe ich es als ziemlich wertvoll ein.«
»Der Preis würde keine Rolle spielen. Wirklich nicht.« Theo war es etwas peinlich, dass er sein Interesse an dem Bild so unverhohlen zur Schau stellte.
»Ich muss Sie leider enttäuschen, aber das Bild ist unverkäuflich.«
Theo nickte enttäuscht. »Ich verstehe … Wie sind Sie dazu gekommen? Und wer ist diese Dame mit dem Schwert?«
»Hm. Also kurz nachdem ich hier das Hotelmanagement übernommen hatte, entdeckte ich das Bild im Winkel einer Abstellkammer, eingehüllt in ein Wachstuch. Wahrscheinlich stellt es Judith mit dem Haupt des Holofemes dar – ein in der klassischen Malerei sehr beliebtes und oft variiertes Motiv. Aber das ist lediglich meine Vermutung.«
»Schade, dass dieser Holofernes kein Gesicht besitzt, denn dann wäre das Bild vollkommen.«
»Nun ja … Alles Menschliche an sich ist stets unvollkommen. Wäre etwas vollkommen, dann wäre es nicht mehr menschlich, sondern göttlich, nicht wahr?« Nach dieser Entgegnung wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Telefon zu, das schrill ihre Rede unterbrach. »Antonio!«, rief sie ärgerlich nach dem Alten, ehe sie den Hörer abnahm, »alles muss man hier alleine machen …«
Nachdem Theo mit einigen Kurgästen ein leichtes Abendmahl in der Gaststube eingenommen hatte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Unter Judiths Blicken ging er ins Badezimmer und stieg unter die Dusche. Im weißen Bademantel mit der Goldstickerei Kurhotel Engel und nassen, nach hinten gekämmten Haaren, legte er sich eine Weile aufs Bett und starrte an die Decke. Eigentlich war er hier, um übers Wochenende fernab von Familie und Kinderlärm eine Dissertation zu prüfen. Aber das Gemälde übte eine geradezu magische Anziehungskraft aus, sodass er seinen Kopf drehen und es ansehen musste. Jetzt, nachts, schien es von einem schwelenden Licht erfüllt, das die Frauengestalt fast plastisch hervortreten ließ. »Judith«, murmelte er nachdenklich, »oder wer immer du sein magst, meine unerschrockene Heldin.«
Der kleine, zu allem entschlossene Mund in ihrem Gesichtsoval, raubte ihm fast den Atem, er konnte einfach nicht wegschauen.
Komm, erwecke mich zum Leben!
Er wusste, dass es abartig war, ein solch blutrünstiges Weib zu verehren. Und trotzdem … Um seine Unruhe zu kaschieren, setzte er sich auf den Rand der Matratze, drehte das Radio an, suchte und fand einen Klassik-Sender. Das Andante von Mahlers sechster Sinfonie erscholl und verbreitete eine trübe Stimmung. Musik, wie eine Verbindung zum Unendlichen und Unfassbaren. Theo stand auf, nahm sich eine Erdbeere aus dem Fruchtkörbchen und verzehrte sie genüsslich vor dem offenen Fenster. Kühle Nachtluft strömte herein, umhüllte ihn wie eine Decke.
Nach weiterer eingehender Betrachtung des Gemäldes, das nun wie schwerer Wein seine Sinne benebelte, entschloss er sich, um jeden Preis in dessen Besitz zu gelangen. Es mutete ihn selbst verrückt an, aber er war gerade dabei, dieser Judith rettungslos zu verfallen. Sie musste ihm gehören, ihm allein, und gierig streckte er seine Hand danach aus. Theo merkte, wie er vor Begierde anfing zu zittern. Als er das Bild von der Wand nahm, glitt kalt und schnell wie eine Messerspitze ein Schweißtropfen zwischen seinen Schulterblättern hinunter. Schnell biss er sich auf die Unterlippe, ein winziger Blutstropfen trat hervor. Bebend hielt er den Rahmen fest in den Händen und küsste versessen Judiths Lippen. Ein Schauer der Erregung rieselte durch seinen Körper.
Seine Sachen hatte er gepackt, das Bild in ein Badetuch gewickelt. Ohne die Konsequenzen seines Handelns zu bedenken, schlich Theo frühmorgens auf Zehenspitzen samt der Diebesbeute die Hoteltreppe hinunter. Einmal blieb er kurz stehen und lauschte. Jemand schnarchte. Klopfenden Herzens stieg er weitere Stufen hinab, duckte sich auf einem Treppenabsatz – und sah direkt auf Antonio. Doch der Alte schlief mit offenem Mund und in sich zusammengesackt auf einem Stuhl hinter dem Tresen. Lautlos durchquerte Theo de Fago das Foyer, verließ das Kurhotel und eilte zu seinem Wagen; dabei beschlich ihn permanent das Gefühl, jemand sei ihm dicht auf den Fersen. Immer wieder blickte er sich um, doch er sah nichts. Er spürte nur ein Zittern, ein Vibrieren der Luft, als signalisiere die Dunkelheit die Präsenz einer Art Energie oder das unsichtbare Vorhandensein von etwas Fremdartigem.
Theo fuhr durch schlafende Dörfer. Anfänglich grinste er noch wie im Wahn vor sich hin, doch bald schon spürte er die Müdigkeit auf den Lidern lasten und auch auf dem Fuß, der das Gaspedal trat. Während er mit links den Wagen steuerte, schaltete er mit dem rechten Zeigefinger die Innenbeleuchtung an und bewunderte das Gemälde auf dem Beifahrersitz. Da bemerkte er erschrocken, dass die Frau auf dem Bild fehlte. Unwillkürlich machte er einen Schlenker mit dem Wagen, korrigierte aber sofort, fuhr sich mit der rechten Handfläche zweimal rasch übers Gesicht und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
Die Müdigkeit spielt mir einen Streich. Oder vielleicht sind es die überreizten Nerven …
Plötzlich spürte er den Druck von Fingern auf seiner Schulter und schrie überrascht auf. Mit weit aufgerissenen Augen warf er den Kopf herum.
Wie ein Gespenst saß Judiths Inkarnation stumm in voller Lebensgröße auf dem Rücksitz, mit Augen, die wie zwei Sterne glitzerten.
Theo konnte kaum glauben was er sah. Fassungslos saß er mit offenem Mund reglos in seinem Sitz.
Er hatte tatsächlich die Forderungen ihrer Lippen eingelöst und sie zum Leben erweckt …
Eine Autohupe zerfetzte die Stille der Nacht. Theos Herz raste, gehetzt blickte er nach vom und wurde von Scheinwerfern geblendet. Entsetzt stellte er fest, dass er von seiner Spur abgekommen war. Er riss hektisch das Steuer herum, verwechselte in seiner Panik die Pedalen und gab Vollgas.
Judiths Finger streichelten sachte sein Haupt, ehe sie sich in seinem Haar festkrallten und seinen Kopf brutal nach hinten rissen, bis er brüllte. In Sekundenschnelle schnitt sie ihm mit dem Kurzschwert die Kehle durch und säbelte ihm den Kopf ab. Blutfontänen spritzten an die Scheiben und über die Armaturen, während der Wagen schleudernd in einer Rechtskurve die Straße verließ und sich wuchtig um einen Baum wickelte.
Das Wrack wurde im Morgengrauen geborgen. Die Bergungskräfte trafen auf eine männliche, aber kopflose Leiche im Wageninneren. Der Schädel wurde trotz intensiver Suche nicht gefunden.
Auf dem rechten Vordersitz entdeckte man ein blutbeflecktes Frottiertuch, das über einem alten Gemälde lag. Es stellte eine in Prunk gekleidete Frau dar, die ein abgeschlagenes Haupt an den Haaren hielt. Und dieses Haupt trug unverkennbar die in Agonie verzerrten Gesichtszüge Theo de Fagos.
DAS WEISSE GESICHT
Vorgestern fand er ein Foto in der Post. Darauf war nichts weiter als sein Briefkasten abgebildet. Verblüfft und mit einer leisen Beklemmung schaute er es sich an. Kein Vermerk auf der Rückseite. Gewiss nur ein dummer Scherz, dachte er und kehrte in sein Haus zurück. Depressiv und ängstlich wie er war, geriet er dennoch ins Grübeln.
Nachts fand er keine Ruhe, knipste immer wieder die Nachttischlampe an und betrachtete wiederholt dieses so banale, wie