Wie ihre Vorfahren lebten also die Kippenheimweiler um 1800 in einem austarierten System von Vieh- und Ackerwirtschaft, das einerseits das Überleben sicherstellte, andererseits jedem Ding und jeder Handlung einen Platz zuwies. Und kaum noch Zuwächse ermöglichte. Die jedoch waren nötig, denn im 18. Jahrhundert war die Bevölkerung kräftig gewachsen. Inzwischen lebten rund 400 Menschen im Dorf, um 1720 waren es nur 186 gewesen.[5] Zu dieser Zeit war die Erholung nach den kriegerischen Katastrophen des 17. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. 1628, bevor der Dreißigjährige Krieg in der hiesigen Region seine ganzen Auswirkungen zeigte, lebten 33 Bürger im Dorf, das entsprach rund 120 bis 150 Einwohnern. Also besaß Kippenheimweiler auch vor dem Dreißigjährigen Krieg eine durchaus nennenswerte Zahl an Einwohnern, war rechtlich jedoch immer noch stark von Kippenheim abhängig. Im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges schmolz die Einwohnerzahl dann aufgrund von Kriegstoten und Abwanderung auf weniger als ein Viertel.[6]
In dieser Zeit können wir auch erstmals etwas genauer auf die soziale Gliederung der Dorfbewohner schauen. 1628 gab es 6 Meier, 5 mittelmäßige Meier, 7 Witwen und 15 Tagelöhner, die in 31 Häusern lebten.[7] Was genau ein Meier ist, geht aus der Quelle nicht hervor, doch wir dürfen in ihm einen Bauern vermuten, der ein vollwertiges Gespann sein Eigen nennen konnte. Die 15 Tagelöhner zeigen uns, dass die Hälfte des Dorfes aus Menschen bestand, die wahrscheinlich ein wenig Acker- oder Gartenland besaßen, ansonsten aber sehr arm waren. Neben der landwirtschaftlichen Beschäftigung können wir im 17. Jahrhundert kaum andere Tätigkeiten im Dorf feststellen. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts tauchen im Ortssippenbuch häufiger Handwerker wie der Rechenmacher Andreas Fichter, der Weber Franz Joseph Müller, der Küfer Lorenz Hertenstein oder der Wirt Franz Carl Kupfer auf. Auch einen (evangelischen) Lehrer finden wir nun, den Taglöhner Lorenz Läßle. Er unterrichtete in seinem Privathaus – ein eigenes Schulhaus gab es erst unter seinem Nachfolger Michael Wagner ab 1773.[8] Auch eine Wirtschaft gab es erst ab 1749. Die war nicht nur wichtig als geselliger Mittelpunkt der (männlichen) Dorfgesellschaft, sondern auch als „Stube“ des Ortes, d. h. als Rathausersatz. Hier wurde der sogenannte Weinkauf abgehalten, d. h. die rituelle Besiegelung eines Geschäftes. Gerade darum gab es freilich jahrzehntelangen Streit mit Kippenheim, das sich dieses lukrative Geschäft ebenso wie die Hochzeiten nicht abnehmen lassen wollte.[9]
Obgleich die Wylerter im 18. Jahrhundert im Allgemeinen arm waren – im Durchschnitt besaß jeder Einwohner 15 Sester Ackerland, also einen Hektar –, verteilte sich der Grundbesitz sehr ungleich im Dorf. Nur sechs Bauern besaßen mehr als drei Hektar, was die Untergrenze dessen war, was man zum Überleben alleine aus der Landwirtschaft brauchte. Weitere zwanzig besaßen immerhin mehr als den Durchschnitt, während 39 weniger als den Durchschnitt und teilweise gar kein Land besaßen.[10] „Reichster“ Bauer mit über sechs Hektar (hinzu kam noch Rebland und Garten) war Andreas Leppert, genannt „der Kornett“.[11] Der Spitzname verweist auf seine Tätigkeit als Dorfmusiker, unter Umständen aber auch auf seinen Militärdienst, wo das Cornett ein verbreitetes Signalhorn war. Ihm folgte Andreas Fleig der Alte, der rund fünf Hektar Ackerland besaß.
Der geringe Grundbesitz hatte natürlich Folgen: Kaum ein Wylerter wird von der Landwirtschaft alleine gelebt haben können. Zusatz- und Nebentätigkeiten im Transportbereich, als Tagelöhner und in einfachen Handwerken gehörten selbstverständlich dazu. Wie in fast allen Dörfern in Südwestdeutschland.
Es verwundert also nicht, dass dieses kleine Dorf kein wirkliches und eigenes Verfassungsleben entwickelte, sondern wohl von Beginn an von Kippenheim verwaltet wurde. In einer Urkunde vom 12. Juni 1690 heißt es jedenfalls, dass es „uhnlaugbar (unleugbar) und noch widersprechlich (sei), dass je und alle Zeit die Inwohner zue Kippenheimb und weiller ein gemein undt ein Burgerschaft gewesen, welche mit Einander, nach dem wahlen gegangen, ein gericht Besessen, ein staab geführt undt gleiches recht zue Dorff undt Veldt, im waßen (im Wasser) und zum Landt, in Waldung, auf der Höhe undt Nidere, so wiet sich dieser orthen Etter Erströckh, mit Menschen und Vihe genossen“.[12] Das bedeutet, dass Kippenheimweiler zwar im 17. Jahrhundert über einen eigenen Stabhalter (und auch Bürgermeister) verfügte – also über Vorgesetzte der örtlichen Verwaltung und Rechtsprechung –, ansonsten aber alle wichtigen Entscheidungen in Kippenheim gefällt wurden. Je größer jedoch das Dorf wurde, umso stärker drängte es auf vollständige Eigenständigkeit. Problematisch war dabei, dass das Dorf über keine eigene Gemarkung verfügte, sondern sich den Bann mit Kippenheim teilte.[13] Dies war nicht außergewöhnlich, auch Lahr, Mietersheim und Dinglingen etwa besaßen bis 1800 eine gemeinsame Gemarkung. Es bedeutete aber für Kippenheimweiler, dass es schwierig war, sich ökonomisch und politisch wirklich von Kippenheim abzusetzen. Die Auseinandersetzungen mit Kippenheim um die Verteilung der Lasten, Pflichten und Einkommen zogen sich deshalb viele Jahrzehnte lang hin. Doch machte man im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend Fortschritte. Für 1723 sind erstmals eigene Heimburgerrechnungen überliefert. Der Heimburger war im Dorf für die Abrechnung der Dorffinanzen und Abgaben zuständig. 1737 wird ein Bürgermeister erwähnt (Andreas Fleig), ab 1761 schickten die Kippenheimweiler eigene sogenannte Ausschussmänner in das Kippenheimer Gericht. Nach langen Auseinandersetzungen schließlich hatte man es 1788 geschafft: Am 6. Februar fand die erste Rug- und Frevelgerichtssitzung in Kippenheimweiler statt.
Eigentlich war das Frevelgericht ein herrschaftliches Gericht, bei dem unter Vorsitz eines herrschaftlichen Vertreters – meistens des Amtmannes – Fragen der niederen Gerichtsbarkeit, aber auch der Dorfordnung behandelt wurden. Ein eigentliches Gemeindegericht scheint Kippenheimweiler vor dem Ende des Alten Reiches (also vor 1803) nicht mehr bekommen zu haben, doch wird dies in der Praxis keine große Rolle mehr gespielt haben.
Fassen wir das alles zusammen, so kann also von Stillstand in der Zeit vor 1800 keine Rede sein. Die Bevölkerung wuchs über alle Rückschläge hinweg kräftig an, das System der Landbewirtschaftung zeigte schon vor 1800 moderne Züge, die politischen Verhältnisse im Dorf waren ab dem frühen 18. Jahrhundert auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Was sich wenig veränderte, war freilich die prekäre Lebenssituation der meisten Wylerter. Hier brachte erst das 19. Jahrhundert den endgültigen Wandel: Die Agrarreformen einerseits und die nun greifende Industrialisierung andererseits verwandelten das Dorf weiter und endgültig. Äußerlich und innerlich war es im 20. Jahrhundert kaum noch mit seinem vormodernen Vorgänger zu vergleichen. Und auch seine Beziehung zum Umland änderte sich in diesem neuen Kräftefeld: An die Stelle von Kippenheim als sozialem und kulturellem Bezugspunkt trat zunehmend Lahr. Bis 1972 mit der Eingemeindung auch hier den veränderten Fakten Rechnung getragen wurde. Das aber wäre eine andere Geschichte …
Topographischer Plan von 1784, Quelle: Generallandesarchiv Karlsruhe
(© Landesarchiv Baden-Württemberg)
2. Kapitel Kippenheimweiler im 19. Jahrhundert
2. KAPITEL
Kippenheimweiler im 19. Jahrhundert
Die Eisenbahn
VON STEPHAN HURST
Die Eisenbahn
VON STEPHAN HURST
Für Kippenheimweiler prägend ist seit mehr als 150 Jahren die Eisenbahnstrecke des Rheintals – quasi direkt vor der Haustür. Lange Zeit war die Reichs- und später die Bundesbahn ein gewichtiger Arbeitgeber für viele Menschen des Dorfes. Aber auch allen Reisenden ermöglichte vor allem der Bahnhof in Kippenheim ein bequemes und nahe liegendes Zusteigen. Blicken wir zurück:
Im März 1838 nahm der Badische Landtag ein Gesetz an, mit dem das Großherzogtum Baden in eine neue Epoche seiner Geschichte eintrat: in das Zeitalter