„Warum steht das Gebäude leer?“, wunderte sich Christin.
„Nun ja, in der Ehe von Brandons Eltern gab es keine große Liebe. Die Eltern der jungen Leute arrangierten diese Verbindung. Dabei ging es vorrangig um die Banken und sehr viel Geld. Vor dem Personal wurde zwar nie darüber gesprochen, aber wir besaßen auch Augen und Ohren. Mr. Stonewall musste für mehrere Wochen auf Geschäftsreise gehen. Der Sohn hielt sich in einem Ferienlager auf. Mrs. Stonewall fuhr deshalb in die Berge, da ihr allein zu Hause langweilig wurde. Sie kam nach ein paar Wochen zurück und wir alle stellten fest, dass sie sehr glücklich wirkte. Einige Monate später, bemerkte man, dass Mrs. Stonewall ein Baby erwartete. In Windeseile wurde auf Befehl des Hausherrn das Herrenhaus vergrößert. Wir wunderten uns damals auch darüber, denn das alte Haus bot noch genügend ungenutzte Räume, wo man ein weiteres Kind hätte unterbringen können. Doch kaum brachte Mrs. Stonewall das Kind Brandon auf die Welt, gab es einen riesengroßen Krach zwischen den beiden Eheleuten und der Hausherr verbannte seine Frau mitsamt dem Baby regelrecht in den angebauten Teil des Hauses. Sie lebten dort sehr abgeschieden. Nur zu Tagen, an denen die Presse kam, oder zu Gartenpartys durften sie erscheinen. So wollte Mr. Stonewall der Welt eine heile Familie vorspielen. Scheiden ließ er sich nicht von seiner Frau und das Stiefkind existierte in seinen Augen so gut wie gar nicht. Denn sein eigenes Kind konnte es ja nicht sein. Schließlich konnten wir auch rechnen und wussten, wer wann im Haus zusammenkam. Mrs. Stonewalls Baby war ein Mitbringsel aus dem Urlaub in den Bergen. Doch was da geschah, das weiß bis heute keiner. Man bemerkte allerdings den Unterschied. Dieses Kind musste aus einer großen Liebe entstanden sein. Brandon hing mit der gleichen Liebe an seiner Mutter wie sie an ihm und es traf ihn sehr schwer, als sie bei diesem Autounfall starb“, erzählte ihr Doreen. „Auf jeden Fall wurde dieser Junge mit sehr viel Liebe von seiner Mutter aufgezogen. Der überstrenge Vater hatte keinen Einfluss auf ihn. Er tendierte später nicht zum Spieler und Trinker wie sein Halbbruder, denn der wollte sich nur Freiraum beschaffen, um seinem Vater zu beweisen, dass er auch anders sein konnte. Nämlich genau das Gegenteil von brav, gut und fleißig. Für den Vater tat sich hier ein tiefer Abgrund auf. Dennoch ließ er ihn nicht fallen und setzte ihn als Haupterben ein. Brandon dagegen lernte fleißig in der Schule und beendete sie mit einem sehr guten Abschluss. Nachdem er volljährig war übernahm er das Erbe seines Stiefvaters. Doch das erlebte seine Mutter leider nicht mehr. Er ist ein sehr sparsamer Mensch geblieben und finanzierte alles mit seinem Beruf als Tierarzt und den Zinsen, die ihm zustanden, bis die Krankheit bei ihm ausbrach. Er tastete nichts von den ererbten Konten an, obwohl ihm mehrere Millionen zur freien Verfügung standen. Dann entließ er alle Dienstboten bis auf uns. Er meinte wohl, es würde sich nicht mehr groß rentieren, wenn er nicht mehr lange zu leben hätte. Das Wenige, was wir jetzt zu tun haben, dazu brauchen wir keine große Dienstbotenschar.“
„Na ja, den Gärtner hätte er vielleicht doch behalten sollen. Die Gehwege sind alle vergrast und das Unkraut wuchert überall“, entgegnete Christin.
„Seitdem er nicht mehr laufen und seinen geliebten Rosengarten nicht mehr erreichen kann, ist ihm alles egal geworden“, teilte die Haushälterin ihr betrübt mit.
Langsam gingen sie wieder in das ältere Haus zurück und die Pflegerin sah gleich nach ihrem Patienten, der inzwischen ausgeschlafen hatte.
„Christin, hast du es schon bemerkt?“, überfiel er sie, als sie den Raum betrat. Er blickte sie von der Seite her an. „Die schwarzen Krähen sind fort. Sie müssen bemerkt haben, dass es mir wieder besser geht. Eine haben sie allerdings vergessen“, ließ er sie raten.
Die Ordensschwester sah aus dem Fenster, doch sie konnte keinen einzigen Vogel mehr sehen. „Wen haben sie denn vergessen?“, wollte sie wissen.
„Dich“, lachte Brandon.
„Nur weil ich einen schwarzen Habit trage, ist das noch lange kein Grund mich mit den Krähen zu vergleichen“, entgegnete sie etwas scharf.
„Verzeihung, Christin, das sollte nur ein Witz sein. Bitte sei nicht beleidigt. Ich bin sehr froh, dass du hier bist, sonst hätten mich die schwarzen Vögel schon längst mitgenommen.“ Beim letzten Satz wurde seine Stimme immer leiser.
„Du bringst diesen Aberglauben wohl nie mehr aus deinem Kopf heraus? Wer hat dir das überhaupt erzählt?“, erkundigte sie sich.
„Mein Stiefbruder“, antwortete er. „Der wusste eine ganze Menge solcher Lügen. Ich war damals noch sehr klein und ich glaubte ihm einfach alles.“
Christin versuchte ihm die Langeweile mit Würfel- und Kartenspielen zu vertreiben. Vor allem jedoch wollte sie ihn auch von den schwarzen Krähen ablenken, denn sie beobachtete ihn dabei, dass sein erster Blick frühmorgens immer dem Fenster galt, mit der bangen Frage im Gesicht: Sind sie etwa wieder zurückgekehrt? In den nächsten Tagen ließ sie ihm einen hängenden Fernseher über dem Bettende installieren und seine Stereoanlage im Zimmer anschließen. Über die Fernbedienung konnte er so ziemlich alles regeln. Endlich wusste er wieder, was draußen in der Welt vor sich ging. Auch konnte er seine geliebte Musik wieder hören. Das Interesse daran erlosch völlig bei den starken Schmerzen. Nur sie beherrschten nun sein Leben.
Christin ordnete die CDs in seinen Nachtschrank ein und bemerkte, dass sich viele klassische Musikstücke darunter befanden. Auch moderne Klassik fand sie. Brandon beobachtete sie, als sie eine CD nach der anderen umdrehte, um die angegebenen Musikstücke zu lesen. Da sie neben seinem Bett kniete, war sie ihm somit sehr nahe. So nahe, dass er den Duft von Cyclamen wieder einatmete, der ihr anhaftete. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie einfach in seine Arme zu schließen. So ein bezauberndes Geschöpf konnte und durfte doch nicht ein Leben lang als Nonne in einem Kloster leben, ging es ihm durch den Kopf. Etwas regte sich in ihm, wofür es sich wieder zu leben lohnte. Er überließ sich jetzt nicht mehr seinen Schmerzen und der aussichtslosen Situation, in der er sich befand. Er kämpfte plötzlich intensiv gegen diese heimtückische Krankheit von sich aus an. Das Gefühl für Christin wurde von Tag zu Tag stärker in ihm. Doch was konnte er ihr schon groß bieten, außer seinen Millionen, die sie nicht nehmen würde und auch nicht behalten durfte. Er wollte sich selbst geben, aber er lag hier beinahe gelähmt im Bett und kämpfte tagtäglich gegen diese Leukämiezellen an. Er musste gesund werden, wenn er sie für sich gewinnen wollte. Doch wie das bewerkstelligen? Und vor allem stand ein noch viel größeres Problem vor ihm: Wollte sie sich überhaupt von ihm gewinnen lassen, für immer? Als er seine Augen wieder öffnete, saß Christin bei ihm auf der Bettkante. Sie wollte ihm gerade die Kopfhörer abnehmen, da sie glaubte, er sei eingeschlafen. Erschrocken zuckte sie zurück.
„Oh, Verzeihung, ich dachte du wärst eingeschlafen“, entschuldigte sie sich.
Dabei sah sie ihm direkt in seine blauen Augen, die sie mit einem seltsamen, heißen Begehren ansahen. Völlig verstört sprang sie auf. Dieser Blick ging ihr etwas zu tief unter die Haut. Doch da war es auch schon vorbei. Brandon rief sich schnellstens zur Ordnung. „Christin! Bleib doch hier. Möchtest du vielleicht auch etwas Musik hören?“, versuchte er sie abzulenken.
Zögernd setzte sie sich wieder auf die Bettkante, jedoch bereit jederzeit wieder aufzuspringen und zu fliehen.
Er nahm die Kopfhörer ab und setzte sie ihr auf. Staunend hörte sie fantastische Klänge. Interessiert beobachtete er sie. Ihr Gesichtsausdruck ließ auf Begeisterung schließen.
„Das ist herrlich. Solche Musik habe ich noch nie gehört“, gestand sie ihm begeistert. „Man könnte dabei direkt träumen.“
Vorsichtig nahm sie die Kopfhörer ab und gab sie ihm zurück.
„Außer Kirchenmusik hören wir im Kloster nichts anderes“, teilte sie ihm mit.
„Was? Ach, ihr armen Schweine. Ihr tut mir wirklich leid. Das muss doch langweilig sein“, warf Brandon ein.
„Nein, solange man nichts anderes kennt, nicht“, antwortete sie.
„Was ist schon viel anders an einer Symphonie, dass ihr sie nicht hören dürft?“, informierte er sich.