„Christin, können Sie etwa Gedanken lesen?“, äußerte er sich erstaunt und sog den frischen Duft ein.
„Nein“, lächelte sie. „Aber die Türe zu meinem Zimmer stand offen. Verzeihen Sie mir, dass ich gelauscht habe?“
„Nein, ich verzeihe es Ihnen nicht“, grinste er. „Im Gegenteil, ich bin sogar glücklich darüber, dass Sie es getan haben. Zur Strafe aber, weil Sie gelauscht haben, verpflichte ich Sie dazu, mich bis in alle Ewigkeit zu duzen. Mir geht das „Sie“ auf den Wecker, wenn man tagtäglich zusammen ist“, verlangte er von ihr. Mal sehen, ob ich das auch so schnell fertigbringe wie Gordon mit Melissa, dachte er.
„Es ist uns leider nicht erlaubt unsere Patienten mit „Du“ anzureden“, erklärte sie.
„Ach, hat das vielleicht auch die Mutter Oberin vorgeschrieben?“ Er bedachte sie mit einem lauernden Blick.
„Ja, sie meint, das „Du“ würde zu vertraulich klingen“, versuchte sie ihm zu erläutern. „Der Respekt ginge zwischen dem Patienten und der Pflegeperson verloren.“
„Vertraulich? Respekt? Papperlapapp! Sage deiner Oberin, ein todkranker Mann hat darum gebeten, dessen Tage sowieso gezählt sind. Einen solchen Wunsch kann sie nicht abschlagen, wenn sie ein Herz besitzt.“ Brandon öffnete seine Augen einen Spalt und beobachtete die Nonne genau. Er erkannte, dass sie Zweifel bekam und mit sich rang, ob sie das Gebot der Oberin brechen durfte oder nicht. Eine Weile später atmete sie tief auf.
„Na gut, aber nur hier unter uns“, willigte sie ein. Sie wusste allerdings nicht, dass das kleine Wort „Du“ sie noch näher an ihn kettete.
„Ich danke dir. Du kannst es auch in Gegenwart von Richard und Doreen tun. Sie werden ganz gewiss nichts verraten“, versicherte er ihr mit einem kleinen Lächeln. „Außerdem ist die Mutter Oberin weit weg von hier.“
Das erste Lächeln, das sie bei ihm sah, seit sie ihn betreute. Sie deutete es als einen Fortschritt, als einen Aufwärtstrend, einen Meilenstein in seiner Krankheit. Und wenn ihm das „Du“ dabei weiterhalf, dann sollte es eben so sein.
„Ich werde dir immer Respekt zollen, weil deine Pflege mit Herz, Verstand und Liebe geschieht. Du setzt deine ganze Kraft dafür ein, deine Patienten gesunden zu lassen. Das hat bisher keine der anderen Pflegerinnen getan, denn denen wäre es lieber gewesen, ich wäre so schnell wie möglich abgekratzt. Dafür bin ich dir aufrichtig dankbar. Du schätzt die Würde des Menschen noch“, bestätigte er ihr.
Das hatte bisher noch kein Patient zu ihr gesagt und sie wurde schlichtweg einfach rot vor Verlegenheit.
„Ach, da wäre noch etwas, Christin. Verzeihst du mir die Nebelkrähe und den Pinguin?“, bat er sie zaghaft.
„Das habe ich doch schon längst vergessen“, versicherte sie ihm.
Tatsächlich ging es die nächsten Tage mit ihm etwas bergauf. Brandon nahm wieder kleine Portionen Nahrung zu sich. Christin entfernte die Infusion. Jeden Tag erhöhte sie die Brotmenge um ein kleines Stück mehr.
Ganz behutsam begann sie ihn auf Vollwertkost umzustellen. Frisches Gemüse und saftiges Obst kam mehr und mehr auf seinen Menüteller. Er bekam mehrere kleine Portionen Salat über den Tag verteilt. Jeden dritten Tag gab es eine Fleischmahlzeit, bestehend aus Hühnchen, Pute, Fisch oder zartem Rinderfilet. Christin war mehr als überrascht, als Brandon ihre Speisen lobte, ja sogar mit Appetit verzehrte. Er begrüßte es geradezu, dass von nun an weniger Fleisch auf dem Teller lag. Vor allem gab es dieses ekelhafte, fette Schweinefleisch nicht mehr, das all die anderen Pflegerinnen ihm immer wieder vorgesetzt hatten. Als ob es nichts anderes zu kaufen gäbe. Nach vier Wochen konnte er zum ersten Mal wieder eine gefüllte Tasse zum Mund führen, ohne dabei zu zittern und die Hälfte davon auf das Bett zu verschütten.
„Du bist schon viel kräftiger geworden in den letzten Wochen“, freute sich Christin. „Noch zwei, drei Monate und du bist stark genug eine Wirbeloperation zu überstehen“, ermutigte sie ihn.
„Vorausgesetzt, die Blutwerte bessern sich bis dahin“, wandte er ein.
Tatsächlich trat ein Stillstand der wachsenden Krebszellen ein. Brandon fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr und vor allem vollkommen schmerzfrei. Die Müdigkeit wich einem unbändigen Tatendrang. Er hätte sonst etwas unternommen, wäre da nicht die Rückenverletzung gewesen, die ihn an das Bett fesselte. Doch dazwischen holte ihn trotzdem manchmal eine bleierne Müdigkeit ein. Und wenn er ihr dann nachgab, schlief er sehr tief und fest, was allerdings seiner Gesundung diente.
Einmal während dieser tiefen Schlafphasen ging Christin hinunter in die Halle und suchte nach einer Türe, die in den angrenzenden Anbau führen musste. Eigentlich durfte sie das gar nicht tun. Eine Ordensfrau durfte nicht neugierig sein. Neugierde fiel mit unter die zehn größten Vergehen einer Nonne. Dessen war sie sich voll bewusst, doch in diesem Augenblick überwog der Wissensdurst. Erregt, von Erwartung getrieben, setzte sie leise einen Fuß vor den anderen. Da bemerkte sie einen leichten Luftzug, der ganz hinten unter den beiden Treppen hervorkam. Vorsichtig schlich sie dahinter und fand eine geöffnete Türe genau unter den beiden Treppen, die in den ersten Stock führten. Sie kam in einen Vorraum, wo sich Winterstiefel und Wintergarderobe befanden. Eine weitere Türe stand offen und sie kam zu einer geschwungenen Treppe, die ebenfalls nach oben führte. Noch ein Stück weiter stand sie plötzlich in einem großen, hellen Wohnzimmer mit nur wenigen Möbeln, die mit weißen Tüchern abgedeckt waren. Geradeaus entdeckte sie den Wintergarten, den sie vom Garten draußen gesehen hatte. Dort erblickte sie Doreen, die mit einer Gießkanne die Blumen goss. Die Frau drehte sich um, da sie fertig war und sah Christin im Wohnzimmer stehen.
„Oh, Entschuldigung bitte, Doreen. Ich bin wieder viel zu neugierig gewesen“, gestand die kleine Nonne und drehte sich auf dem Absatz um.
„Nein, nein, bleib doch hier, Christin!“, rief sie. „Du tust nichts Verbotenes. Dieses Haus ist im Grunde ein Doppelhaus und gleichzeitig sind es auch zwei eigenständige Häuser.“ Die Haushälterin ging ohne Umschweife zum persönlichen „Du“ über.
„Ich wollte eigentlich nur wissen, wie man in den Wintergarten kommt, den man vom Garten aus sieht“, erklärte sie ihr ungehöriges Vordringen.
„Komm doch herein in den Wintergarten“, forderte Doreen sie auf.
Langsam betrat Christin den gläsernen Raum. Sie entdeckte dort eine Sitzgruppe aus hellem Rattan