Weiterglauben. Thorsten Dietz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Dietz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961400485
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allgemeine Entwicklung der Gesellschaft an den Rand gedrückt fühlt, desto anfälliger wird sie für eine solche Radikalisierung.

      Ich möchte daher vorschlagen, die Erscheinung des Fundamentalismus mit Hilfe zweier Metaphern wahrzunehmen: als Seismograph und als Überdosierung. Als Seismograph reagieren fundamentalistische Strömungen auf kulturelle Veränderungen, auf den Verlust ehemaliger Geborgenheit, auf den Schwund früherer Wertschätzungen oder ganz allgemein die Erschöpfung früherer Gewissheiten, die vielen Menschen Halt und Orientierung gaben. Und mag man die fundamentalistischen Reaktionen noch so aggressiv und unverständig finden, in der besorgten oder wütenden Wahrnehmung von Veränderungen zeigt sich eine Sensibilität, die auch denen nicht gleichgültig sein sollte, die sich davon unbetroffen fühlen. Sehr häufig führen sämtliche Versuche, fundamentalistisch denkende Menschen auszugrenzen oder lächerlich zu machen, nur dazu, dass sie sich untereinander umso enger und entschiedener zusammenschließen und in ihrem Ausschluss einen Beleg, ja einen Beweis für das Recht ihrer kritischen Sicht auf die Außenwelt sehen. Daher ist es an der Zeit, nach den Wahrheitsmomenten fundamentalistischer Denkweisen zu fragen. Und wenn wir die Formel vom „Aufstand gegen die Moderne“ ernst nehmen, so reagieren Formen des Fundamentalismus ja auch auf problematische Erscheinungen der Moderne: die mit der zunehmenden Individualisierung verbundenen Entfremdungsprozesse in Familie und Nachbarschaft; die mit der Verwissenschaftlichung des Weltumgangs einhergehende Abwertung von Lebenserfahrung, Weisheit und Traditionen. Im Fundamentalismus verdichtet sich ein Krisenbewusstsein für die problematischen Seiten der Moderne.

      Man mag fundamentalistischen Haltungen vorwerfen, sich einseitig und ungerecht von einem Kulturpessimismus bestimmen zu lassen, der nicht wahrzunehmen vermag, dass die negativen Seiten der Modernisierung seit Generationen öffentlich diskutiert werden.16 Man sollte dabei nicht übersehen, dass die Anhänger fundamentalistischer Religionen nicht selten eine für sie befriedigende Lösung finden, in ihren Kreisen eine Gegenkultur zum gesellschaftlichen Mainstream zu entwickeln. Um das Phänomen radikaler Frömmigkeit zu verstehen, muss man auch wahrnehmen, was sie für viele so attraktiv macht. Welche Vorteile bietet Fundamentalismus?

       Er bietet klare und eindeutige Lebensorientierung. Das Leben ist schon unübersichtlich genug, viele Menschen haben kein Interesse daran, alle Komplikationen des modernen Denkens z. B. in ihrer Religion wiederzufinden. Fundamentalistische Religion ist einfach, klar und praktisch; und das bietet vielen eine echte Hilfe im Leben schon dadurch, dass alles Wesentliche wieder übersichtlich wird.

       Er stiftet Motivation zum persönlichen Einsatz. Menschen, die klare Überzeugungen und eindeutige Orientierungen haben, setzen sich für die Ziele und Werte ein, die sie für sinnvoll und notwendig halten.

       Er schafft Verbundenheit mit anderen Überzeugten bzw. im Fall der Religion mit anderen Gläubigen. Fundamentalismus lässt sich nicht einfach mit weiterem Fortschreiten von Bildung und Aufklärung abschaffen. Weltweit gibt es stark wachsende religiöse Gemeinschaften, die durch ihr Angebot von dichter Verbundenheit und Zugehörigkeit viele Menschen anziehen.

      Das Problem dieser Haltung möchte ich mit dem Bild der Überdosierung beschreiben. Im Fundamentalismus kann es um berechtigte, wichtige Ziele und Werte gehen, sei es Bibeltreue, sei es soziale Gerechtigkeit etc. In der Bekräftigung dieses Wertes gerät alles andere, vielleicht auch sehr Wichtiges, aus dem Blick. Das Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit setzt sich durch auf Kosten der Wahrhaftigkeit und manchmal auch der Menschlichkeit. Zum Fundamentalismus gehört wesentlich sein Freund-Feind-Denken, die polare und polemische Wahrnehmung der Welt. Die eigene Wahrheit überzeugt absolut – im Gegensatz zum Liberalismus, zu den Linken bzw. den Rechten, zur Moderne oder wem oder was auch immer. Und diese Gegensatzlogik, dieses Fixiertsein auf das, wovon man sich abgrenzt, wirft nun seinerseits seine Schatten. Menschen, die z. B. so geprägter Frömmigkeit den Rücken zuwenden, leiden an:

       der Unfähigkeit fundamentalistischer Religion, bei ihren Gegnern überhaupt noch wichtige Anliegen wahrzunehmen, die positiv, hilfreich, bereichernd oder würdigenswert sein könnten.

       der Verdrängung von Problemen und Schwierigkeiten in den eigenen Kreisen, die tabuisiert und verschwiegen werden müssen.

       dem Partei- und Lagerdenken, der Neigung zum Bekämpfen der anderen, häufig nicht nur anderer Gedanken, sondern gerade auch anderer Menschen, die man für die eigenen Kreise als gefährlich einschätzt und die man darum ausgrenzen muss.

       der Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien und allen Denkansätzen, die konkreten Gegnern Schuld und Versagen im Blick auf Fehlentwicklungen der Gesellschaft zuschreiben.

       4. Theologie der dritten Wege

      Was kann Theologie in einer solchen Situation leisten? Nun kann Theologie solche Konflikte nicht einfach klären. Wenn wir uns die Basismentalitäten des heutigen Denkens ansehen, dann ist die wissenschaftliche Theologie hoffnungslos modern. Für die einen kann sie kein Teil einer Lösung sein, denn sie ist für den christlichen Glauben das Problem schlechthin, die Ursache allen Niedergangs in der liberalen Christenheit. Für die anderen postmodernen Geister ist sie schlicht und einfach zu kompliziert – und daher letztlich irrelevant. Nun ist jede Theologin bzw. jeder Theologe in heutigen Fragen in irgendeiner Form auch Partei und kann sich nicht anmaßen, wie ein Schiedsrichter über den Gegensätzen zu stehen. Es wäre in den politischen wie in den religiösen Fragen unserer Zeit auch unsinnig, der Sehnsucht nach der verlorenen Mitte nachzuhängen, sich in eine spannungslose, konsensfixierte Harmonie flüchten zu wollen. Konflikte sind wesentlich, sie sind notwendig – nur muss man auch das Streiten lernen.

      Es kann nicht darum gehen, zwischen den Extremen unserer Zeit „den“ dritten Weg zu finden, den Weg der Vernunft und der Mitte, auf dem sich doch bitte alle Menschen guten Willens einfinden mögen. Im schlimmsten Fall ist das auch wieder eine fundamentalistische Sehnsucht. Kein dritter Weg ist die Lösung, sondern die Freiheit zu dritten Wegen: Wege, auf denen Gläubige miteinander ringen und diskutieren, aufeinander hören und voneinander lernen, wo sie nicht vorschnell Einigung suchen auf Kosten der Gründlichkeit, aber auch im Gespräch bleiben, solange sie einander nicht wirklich begreifen. Viele Fragen der gegenwärtigen Christenheit werden nicht auf dem Niveau und in der Atmosphäre diskutiert, wie es angemessen und hilfreich wäre; siehe die Freischwimmer-Debatte. In diesem Sinne möchte ich in diesem Buch dazu beitragen, einige Konflikte zumindest zu versachlichen und diskutierbar zu machen.

      Im achten Teil der Star-Wars-Reihe wurde diese Einsicht so formuliert: „Nur so können wir siegen: nicht bekämpfen, was wir hassen, sondern retten, was wir lieben.“ Fundamentalismus und Relativismus sind Versuchungen, denen man auch nicht in Form ihrer Bekämpfung erliegen darf. Die Extreme stabilisieren sich gegenseitig, vor allem durch den Blick auf ihr jeweiliges Gegenbild. Oder mit Nietzsche gesagt: „Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“17

      Besser streiten lernen, darum muss es heute in vielen christlichen Kreisen gehen. Zwischen radikaler Totalkritik der jeweils anderen und großer Gleichgültigkeit bzw. Kontaktvermeidung gibt es einen weiten Raum, in dem Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen Fragen stellen und diskutieren können. Diesen Raum wieder zu vergrößern ist heute eine Aufgabe, die nur von mehreren Seiten gleichzeitig angegangen werden kann.

       II. Gott gehört uns nicht

      Glaube ist heute ein heißes Thema. Inhalte und Stile des Glaubens verbinden Menschen miteinander – aber trennen sie auch. So war es immer, und nichts spricht dafür, dass sich das grundsätzlich ändern lässt. Aber nicht jeder Unterschied muss als Gegensatz aufgefasst, nicht jede Veränderung gleich als Durchbruch gefeiert oder Verrat beklagt werden. Im Glauben bekommen wir es mit Gott zu tun. Das macht Glaubensfragen so gravierend. In diesem Kapitel möchte ich einige grundlegende Überlegungen anstellen, wie man einen etwas gelasseneren Umgang mit Glaubensunterschieden gewinnen kann. Denn wenn wir es im Glauben auch mit Gott zu tun bekommen, so bleiben Gott und unser Glaube doch immer zweierlei.