3. „Chaos ist eine Leiter“ (Littlefinger)
4. Zwischen Quelle und Mündung
Meinen Töchtern Miriam Dietz, Theresa Dietz, Elisa Dietz
Vorwort
Im Mai 2016 habe ich erstmals bei Worthaus e. V. als Referent mitgearbeitet und zwei Vorträge über Martin Luther gehalten. Worthaus ist ein Projekt, das theologische Vorträge über zentrale Aspekte des christlichen Glaubens im Internet zur Verfügung stellt. Anschließend hatte ich in den letzten beiden Jahren viele Gespräche mit Menschen, die sich durch Beiträge von Worthaus sehr bereichert fühlten. Gleichzeitig sind bei mir auch eine Reihe von Rückmeldungen angekommen von Gläubigen, die sich durch diese Impulse verunsichert fühlen, teilweise auch verletzt und verärgert.
Im Herbst 2017 erschien ein vielgelesener Blog-Artikel mit dem Titel: Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?1 Dort hieß es schon in der Einleitung: „Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen.“ Das war nicht als Kompliment gemeint. Ich denke aber, man müsste das zuerst auch als ein solches lesen. Es ist alles andere als einfach, wissenschaftliche Theologie unter Christen populär zu machen. Genau das aber ist vor allem Prof. Dr. Siegfried Zimmer und anderen in den letzten Jahren gelungen. Die Beiträge bei Worthaus werden durchweg von Zehntausenden Christen gehört, teilweise von Hunderttausenden, die in vielen Vorträgen eine wesentliche Hilfe für ihren Glaubensweg finden. Dafür gibt es offensichtlich eine Nachfrage. Die hier versammelten Beiträge setzen sich ebenfalls ein solches Ziel: theologische Erkenntnisse möglichst verständlich zu vermitteln.
Insgesamt ist nicht zu überhören, dass manche Christen erhebliche Anfragen an die moderne wissenschaftliche Theologie insgesamt haben. Das ist ihr gutes Recht – Theologinnen und Theologen sollten genau hinhören, auch, wo sie bisweilen recht pauschal kritisiert werden.
Nun ist es so: Die Universitätstheologie hat keine Mailadresse. Niemand kann sich anmaßen, im Namen der Theologie jede mögliche Frage zu klären. Auch innerhalb der Theologie gibt es viele kontroverse Diskussionen. Aber vielleicht gelingt es ja, manche heiße Debatte unter Christen dadurch etwas zu versachlichen, dass man sie differenziert aufgreift. Manche Beiträge dieses Buches sind aus solchen Diskussionen heraus entstanden. Andere gehen zurück auf eine Reihe von Vorträgen, die ich im Laufe des letzten Jahres gehalten habe.2
Vielleicht hilft insgesamt ein Bild aus der Landwirtschaft, um meine Absicht mit diesem Buch deutlich zu machen.3 In der industriellen Landwirtschaft gab es einen langfristigen Trend zum Anbau in Monokulturen. Die Konzentration auf ein einziges Saatgut ermöglicht die kurzfristig effektive Konzentration der Arbeitsabläufe und erhebliche Ertragssteigerungen. Auf Dauer zeigt sich jedoch mehr und mehr, dass ein solches Verfahren für den Boden wie auch für die Pflanzen (durch vermehrten Schädlingsbefall) und die Umwelt insgesamt ruinös werden kann. Die viel gesündere Entwicklung zeigt sich in einem Mischanbau. Mehrere Pflanzenarten werden zusammen angepflanzt. Was zunächst mehr Mühe macht, erweist sich auf die Dauer als nachhaltiger.
Übertragen wir das Bild auf das Christentum: Es gibt globale Trends zur spirituellen Monokultur. Immer mehr Gemeinden und Kirchen entwickeln ein eindeutiges Profil, in Lehre, Musikstil und Lebensgefühl gewinnt alles eine klare und konsequente Handschrift, sei es liberal, evangelikal, charismatisch etc. Natürlich haben gewisse Konzentrationen ihr Recht und ihre besonderen Chancen. Und doch steigern solche Profilierungen auf Dauer die Gefahr der Vereinseitigung. Gegenseitige Bereicherung fällt aus, genauso wie wechselseitige Kritik. In diesem Buch werden Prozesse der Polarisierung untersucht und beschrieben mit der Absicht, die Brücken, die Übergänge und Verbindungstunnel zwischen den Lagern zu pflegen und zu stärken. Unterschiedliche Frömmigkeitsstile brauchen einander zur Ergänzung, verschiedene Phasen des Glaubens können auch zeitversetzt nebeneinander bestehen, so manche notwendige Auseinandersetzung könnte verständnisvoller und gründlicher geführt werden.
Für freundliche Ermutigungen und kritische Ermahnungen danke ich den Marburger Freunden Michael vom Ende, Tobias Faix, Frank Lüdke und Jürgen Mette. Mit Hinweisen und Korrekturen haben sich Jakob Kimpel und Daria Prinke verdient gemacht.
I. Im Sog der Polarisierungen
1. Wachstumsschmerzen
Im Glauben wachsen – das wollen alle Christinnen und Christen.4 Niemand möchte unreif, naiv oder unmündig glauben. Manche würden das so nicht formulieren, sie würden sagen: Glaube ist für mich aber kindliches, naives Vertrauen auf Gott. Aber genau von dieser Haltung möchten sie gerne durch und durch bestimmt sein. Christen haben Sehnsucht nach mehr Tiefe oder nach mehr Weite. Manchmal bringen solche Entwicklungswege ungeahnte Wachstumsschmerzen mit sich. Denn Christenmenschen können sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Für die einen bedeutet Wachstum im Glauben eine immer konsequentere Umsetzung ihres Glaubens in allen Lebensbereichen. Für andere besteht Wachstum nicht zuletzt auch darin, eigene Glaubensüberzeugungen selbstkritisch hinterfragen zu können. Manche Christen wollen raus aus dem, was sie im Rückblick auf ihr bisheriges Glaubensleben als Enge empfinden. Sie haben das Gefühl, viel zu viele Fragen unterdrücken zu müssen, und leiden unter der Sprachlosigkeit in ihren Gemeinden. Andere sind betroffen über solche Ausbruchsversuche. Sie fühlen sich durch solche Formulierungen angegriffen und missverstanden. Aus ihrer Sicht sollte man nicht von Weite reden, wo man die enge Pforte breit machen möchte. Sie weisen den Vorwurf zurück, dass diejenigen, die den schmalen Weg gehen wollen, eine Verengung des Glaubens betreiben. Es geht ihnen nicht um Enge, sondern um Treue und Verbindlichkeit. Was für die einen Wachstum ist, empfinden andere als Verhärtung oder Verfall. Derselbe Glaube erscheint einigen als fest, anderen als eng. Was die einen Freiheit nennen, ist in den Augen der anderen Beliebigkeit.
Solche gegenläufigen Entwicklungen können Gemeinden oder auch ganze Glaubensgemeinschaften lähmen. In wohl allen Religionsgemeinschaften gibt es heute unterschiedliche Vorstellungen von Glaubenswachstum. Die vatikanischen Familiensynoden 2014-15 haben gezeigt, dass der Umgang mit Ehe und Familie in der römisch-katholischen Kirche strittiger ist, als es das Selbstbild der einen Kirche zulässt. Fragen der Sexualethik oder der Ordination von Frauen lassen die anglikanische Weltkirchengemeinschaft seit vielen Jahren erhebliche Auseinandersetzungen erfahren. Im Herbst 2017 kam es auf der Synode der Evangelischen Amtskirche in Württemberg zu großen Spannungen, ob es eine Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren geben darf oder nicht. Ein Ende dieser Polarisierungen ist nicht abzusehen.
Christen driften auseinander. Diese innerchristlichen Konflikte sind eingebettet in umfassendere Auseinandersetzungen in der heutigen Gesellschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges (1989 / 91) riefen manche ein postideologisches Zeitalter aus. Das Wiederaufflammen ethnischer und militärischer Konflikte auf dem Balkan erschien wie ein letztes Aufbäumen alter Dämonen, die Europa viel zu lange im Griff hatten. Viele träumten nun von einer Konsensgesellschaft, einer neuen Mitte, in der die alten ideologischen Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts überwunden werden sollten. Nicht mehr links oder rechts wollten viele sein, sondern vorne, pragmatisch und zukunftsorientiert. Politiker wie Tony Blair, Gerhard Schröder und Bill Clinton verkörperten um das Jahr 2000 diesen Anspruch der Integration in der politischen Mitte.
Auch im Christentum lassen sich Parallelen zu diesem Trend finden. Die konfessionellen Streitigkeiten der Vergangenheit wurden mehr und abgelöst durch einen Geist des Dialogs. Die weitgehende Einigung in Fragen der Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 macht dies deutlich. In der evangelikalen Welt gelang in Deutschland eine Versöhnung von pfingstlich-charismatischen Christen