Ich kann mir die Arbeit nicht leisten. Rainer Voigt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Voigt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783960081920
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Anders als bei seiner ersten Fahrt mit Christian half Mike sehr wenig. Es waren auch nicht so viele solcher Sammelschwerpunkte, wo das unbedingt Sinn gemacht hätte, obwohl ein bisschen mehr Unterstützung kollegialer gewesen wäre. Aber Frank-Peter war nun mal der Leiharbeiter, der die Drecksarbeit zu machen hatte. Die Tour begann in Großbernhardsdorf, dem Wohnort von Mike, ging über Kleinbernhardsdorf, Teile von Gomma nach Nerchen. Als Frank-Peter 16 : 00 Uhr glaubte, die Schicht wäre gelaufen, fuhren sie noch nach Kussmark, um dem dortigen Kollegen zur Hilfe zu kommen. „Das muss aber der Alte nicht wissen“, sagte Mike auf der Fahrt. „Das Auto des Kollegen hat so einen blöden Trommelcontainer und wenn dort sehr viel geladen worden ist, schaltet sich die Technik ab. Und nur wegen eines einzigen Straßenzuges erst entleeren fahren und danach den Rest einsammeln, ist Scheiße.“ Die Extrembelastung, die Frank-Peter an diesem Tag bereits absolvieren musste, interessierte den jungen Fahrer nicht.

      Mike hatte in der Landwirtschaft gelernt. Als er mit der Lehre fertig war – er fuhr alle großen Fahrzeuge, half bei der Bullenzucht, schor die Schafe – wurde er entlassen. „Deine Kolchose wäre mit dir pleite gegangen, du hast zu viel verdient“, witzelte Frank-Peter, erntete aber nur einen mitleidigen Blick. „Das nimmt sich nicht viel, der Verdienst in der Landwirtschaft und hier!“ Seine Arbeit dort wird aktuell von den Lehrlingen gemacht, aber die heißen jetzt Auszubildende. Einige Trainingsmaßnahmen später, die nichts brachten außer die Statistik zu schönen und nach zwei Monaten beim Straßenbau ist Mike seit zwei Jahren „befristet“ beim Entsorger beschäftigt. Seine befristete Anstellung wurde bereits zweimal verlängert. „Warum bist du noch hier und nicht im Westen?“, fragte Frank-Peter. „Es können doch nicht alle weggehen!“ war die Antwort. Mike war in der freiwilligen Feuerwehr und hatte eine Freundin, die beim Amtsgericht in Gomma arbeitete. Als sie dort ganz langsam vorbeifuhren, hupte Mike. Frank-Peter erfuhr, dass die Festangestellten beim Entsorger ein dreizehntes Monatsgehalt bekamen, das den kargen Verdienst etwas relativierte. Die Zeitarbeiter bekamen solche Zuwendungen eben so wenig wie die volle Auszahlung der geleisteten Stunden. Erst wenn das (Über-)Stundenkonto voll ist, beginnt die komplette Auszahlung.

      Frank-Peter ging es nicht um die schwere Arbeit, obwohl jemand Ende der Fünfzig seinen Körper damit keinen Gefallen tut, schon gar nicht bei diesem Wetter. Ihm ging es um die sklavenähnliche Vergütung und die unsozialen Arbeitsbedingungen. „Das ist doch nicht das Ende deiner Karriere?“, fragte er Mike. „Was willst du machen“, antwortete dieser, „du bekommst einfach keinen andere Arbeit und schon gar keine mit ordentlicher Bezahlung. Solche guten Stellen werden doch nur vererbt.“ „Komisch, du wirst wohl mit deinen jetzt jungen Jahren im Alter keine Rente mehr bekommen, aber womit zahlst du etwas für deine eigene Vorsorge ein? Vielleicht solltest du Hartz IV-Aufstockung für einen Rentenfond beantragen!“ Mike nickte stumm. Eigentlich war Frank-Peter die ganze Woche beim Entsorger eingeplant. Während seines Aufenthaltes am hinteren Tritt des Fahrzeugs, das etwas moderner als das der ersten Fahrt war und ihn nicht mehr zum einatmen der stickigen Luft aus dem Container zwang, erhielt er einen Anruf, dass er am nächsten Tag in Leipzig arbeiten würde und vor der Heimfahrt zurück rufen möchte. So erfuhr Frank-Peter, dass er in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung als Vertretung für einen erkrankten Mitarbeiter der Zeitarbeitsfirma zu Einsatz kommen soll. Zum Glück für Frank-Peter, denn einen weiteren Tag beim Entsorger hätten die schmerzhaften Verspannungen im Schulterbereich nur schlecht verkraftet.

      Vor einigen Tagen bekam Frank-Peter einen Anruf von Woitek, seinem langjährigen Arbeitskollegen aus der Zeit, als er bei Friedrich Rübner aus Jacobstädt in Bad Elbis-Solbach und in Bad Kaiser beschäftigt war. Woitek war „der letzte Mohikaner“, der letzte aus der alten Truppe, die noch bei Friedrich Rübner angestellt waren. Bisher war Friedrich Rübner immer noch auf Woitek angewiesen, weil er bei seinen Geschäften mit Polen auf einen zuverlässigen Dolmetscher angewiesen war. Nun war ihm gekündigt worden, weil er sich geweigert hatte, an einem Freitag nach der regulären Arbeit gegen 20 : 00 Uhr auf einen Anruf hin die 70 km zu Friedrich Rübner zu fahren und Parkett zu laden. Woitek war Pole, genauer noch, er war Schlesier. Schlesier erhielten früher problemlos die deutsche Staatsbürgerschaft und so war erst sein Bruder, dann Woitek in die Bundesrepublik gekommen, um hier ihr Glück zu suchen. Friedrich Rübner war Geschäftsmann durch und durch. Nach der Wende hatte er als „Wessi“ keine Probleme, eine größere Anzahl Immobilien in Leipzig zu erwerben. Das Geld dazu, so erfuhr Frank-Peter von Woitek, hat Friedrich Rübner, der eine Fluglizenz hatte und früher auch ein kleines Flugzeug, mit Goldschmuggel aus der Türkei beschafft. Kurz vor der Landung in Frankfurt hat er das Gold über einem Waldstück abgeworfen, wo schon ein Mittelsmann wartete, um es bei Zollkontrollen nicht verzollen zu müssen. Diese Geschichte hatte Friedrich Rübner Woitek nach einigen Gläsern Bier und Schnaps prahlerisch erzählt. Auch zweifelhafte Immobiliengeschäfte in verschiedenen bundesdeutschen Orten mehrten seinen Reichtum. Außerdem hatte Friedrich Rübner in der Zeit der Ölkrise große, Sprit schluckende Autos billig aufgekauft und mit hohem Gewinn nach Ägypten weiter verkauft. Seine damalige Frau, die als „Königin Mutter“ ein Quartier in dem von Friedrich Rübners Tochter Katrin Rübner betriebenen Seniorenheim bezogen hatte, musste die Fahrten bis zum Hafen Rotterdam übernehmen und dann mit dem Stapel Bargeld in der Tasche per Zug die Heimreise antreten. „Königin Mutter“ erzählte Frank-Peter diese und andere Geschichten, als er diese bei einer seiner Heimfahrten nach Leipzig zu einer weiteren, in Leipzig wohnenden Tochter Sonja mitnahm. In Leipzig fand Friedrich Rübner eine Baufirma, die aus dem ehemaligen Baukombinat hervorgegangen war und mit dem nun problemlos beschaffbaren Material die Sanierung von Häusern auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Gustav, der Firmenchef, war früher im Baukombinat Parteisekretär. Friedrich Rübner überredete Gustav, dass dieser mit seinen Ortskenntnissen und den fachlichen Voraussetzungen und Friedrich Rübner mit dem Geld zusammen firmieren können. Damit Gustav nicht das Gefühl hat, überrannt zu werden, solle er als geschäftsführender Gesellschafter die Geschicke der Firma in der Hand behalten. Ein guter Freund von Friedrich Rübner richtete sich in einem der ersten teilsanierten Häuser in der Karl-Egner-Straße ein, welches Friedrich Rübner gehörte. Er sollte den Verkauf der sanierten Immobilien übernehmen. Dieser Freund machte angeblich aus dem 170 m2 Büro eine Art Bordell, lebte gut und teuer und wusste garantiert nicht, wie man Immobilien an den Mann bringt. Es kam, was kommen musste, die Firma von Gustav ging Pleite. Gustav haftete nun mit seinem Privatvermögen für die Verluste, während Friedrich Rübner den größten Teil seiner Häuser zum Nulltarif saniert bekommen hatte. Vielleicht deshalb haben dann vermutlich geprellte Handwerker dieses Haus in der Karl-Egner-Straße angezündet. Noch heute kündet weithin sichtbar der stehen gebliebene Giebel an der denkmalgeschützten Fassade von dem einst stolzen Gründerzeitgebäude.

       Abgebranntes Haus in der Karl-Egner-Straße

      Es hört sich abenteuerlich an, wie Frank-Peter zu Friedrich Rübner und dessen Konglomerat von Firmen kam. Frank-Peter hörte im Jahre 2004 nach langer Arbeitslosigkeit durch Vermittlung des Sohnes einer Arbeitskollegin seiner Frau, Patrik Steude, von einer Arbeitsstelle in Bad Elbis-Solbach und wagte das Abenteuer. Nur allein mit dessen Zusage, dass Elektriker gebraucht würden, packte er eine Reisetasche und sicherte sich eine Mitfahrt in der zu diesem Zeitpunkt noch existierenden Fahrgemeinschaft. Patrik Steude hatte auch eine Schlafgelegenheit organisiert. Frank-Peter wusste zu diesem Zeitpunkt weder sicher, ob es eine Einstellung geben würde, noch zu welchen Konditionen. Auch seine Arbeitskleidung entsprach nicht den heutigen Normen, eine Niethose und abgeschriebene Lederschuhe mussten fürs erste herhalten. Er hatte zwar Elektriker gelernt und mehr als einmal in den letzten Firmen in diesem Fach mitgearbeitet, aber die vielen neuen Bauteile und die teilweise neuen Technologien waren ihm noch nicht geläufig. Dass es nur kurze Zeit dauert bis man dieses Wissen aufholt, sollte sich später herausstellen. Abends im Dunklen kam man in dem Objekt an. In den spärlich beleuchteten Gängen wirkte alles gespenstig. Patrik Steude zeigte Frank-Peter seine Schlafgelegenheit. Am Morgen begann Frank-Peter wie alle anderen 7 : 00 Uhr mit seiner damals unvollkommenen Arbeitskleidung bei den „alten“ Elektrikern und meldete sich dann 9 : 00 Uhr im Büro bei Veronika, der dritten Tochter von Friedrich Rübner. Nur 8,50 Euro kann man ihm zahlen, verkündete Veronika,