Harka. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические приключения
Год издания: 0
isbn: 9783957840004
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nicht ganz klar. Er war stark, auch schnell. Wenn er Harka fassen konnte, hatte der Junge nichts zu lachen. Aber immer wieder überlistete ihn der jüngere. Harka war mit seinen Gedanken rascher als Schonka, und darum konnte er auch rascher und überraschender handeln. Er konnte besser kombinieren. Meist erriet er, was Schonka in einer gegebenen Situation tun würde, aber Schonka konnte nie berechnen, wie Harka sich verhalten werde.

      Langsam ging Schonka um das Zeltdorf herum. Er brütete darüber, wie er sein Ansehen wiederherstellen und Harka einen Denkzettel geben könne. Die Vorstellung, dass man eine Scharte auswetzen müsse, war unter der Jugend des Indianerdorfes selbstverständlich.

      Nach langem Nachdenken kam Schonka zu dem Entschluss, an diesem Abend nichts mehr zu unternehmen. Er wollte warten, es musste sich eine Gelegenheit finden, sein Vorhaben auszuführen. Missmutig ging er in das väterliche Zelt.

      Dort fand er noch alles so vor, wie es gewesen war, als Harka vormittags von den Ereignissen in der Höhle berichtet hatte. Weißer Büffel lag fiebernd auf seinem Lager. Die Mutter kam jetzt aus dem Hintergrund herbei und flüsterte mit dem Sohn. Sie war voll Angst, dass Weißer Büffel sterben werde. Sollte sie noch einmal den Zaubermann um Hilfe bitten, der schon in der vergangenen Nacht nicht hatte helfen können? Oder vielleicht war ein Dampfbad im Schwitzzelt gut? Oder sie würde zu Untschida gehen, der Mutter Mattotaupas, die von allen Frauen im Dorf die heilenden Kräuter am besten kannte und als »Geheimnisfrau« selbst bei den Kriegern in hohem Ansehen stand.

      Schonka wollte nichts von Untschida hören, die zu dem Zelte Mattotaupas und Harkas gehörte, gegen den er heute mehr als je eine Abneigung empfand. Der Zauberer im Nachbarzelt war dem Burschen selbst unheimlich. Aber ein Dampfbad konnte dem kranken Vater guttun. Schonka hatte wie die Mutter Angst davor, dass der Vater sterben würde. Schonka war fünfzehn Jahre alt, er wurde schon auf die Büffeljagd mitgenommen, aber ein Krieger war er noch nicht, und vermochte er die Mutter und sich selbst allein zu ernähren? Das würde schwerhalten. Wenn der Vater starb, musste Schonka mit der Mutter in ein anderes Zelt ziehen und einen anderen Vater haben. Vor alldem graute ihm, und weil er vor dem Leben ohne Vater Angst hatte, hatte er Angst um das Leben des Vaters. Ein Dampfbad würde dem Kranken sicher guttun.

      Er wickelte den Kranken in eine Büffelhautdecke, und die Mutter lief schon voraus zum Schwitzzelt. Sie wollte nachsehen, ob die Heizsteine noch warm waren. Vorsorglich legte sie sie nochmals in die Glut. Als sie heiß genug waren, um Wasser darauf verzischen zu lassen, holte sie mit dem Sohn zusammen den Weißen Büffel. Sie setzten den Kranken in das Schwitzzelt, und die Frau goss Wasser auf die Heizsteine, so dass das ganze Zelt mit Dampf erfüllt wurde. Als Weißer Büffel der Schweiß am ganzen Körper ausbrach, wurde er von Schonka und der Frau zum Fluss gebracht, um im kalten Wasser unterzutauchen. Das war die altgewohnte Art, an Rheumatismus oder Fieber Erkrankte zu behandeln. Weißer Büffel schauerte zusammen, und als Schonka und seine Mutter ihn aus dem Wasser hoben, legte sich sein Körper schlaff auf ihre Arme, und mit einem krampfartigen Erschrecken begriff Schonka, dass sein Vater tot war.

      Der Atem stockte dem Burschen noch, als er den Toten mit der Mutter zusammen wieder zum Zelt brachte. Die Frau suchte mit dem Jungen zusammen starke gegabelte Stöcke hervor und rammte sie vor dem Zelt in die Erde. Den Leichnam schnürte sie fest in eine der Lederdecken ein und hing ihn am Kopf- und Fußende an die Stöcke. Es war Sitte, dass ein Toter die Erde nicht mehr berühren sollte.

      Dann stimmte die Frau die Klagegesänge an, die das ganze Dorf aufhorchen ließen und wach hielten. Mit langgezogenem Jaulen stimmten die Hunde in die Wehklagen der Menschen ein.

      Harka lag mit seinem Bruder Harpstennah zusammen auf Decken im väterlichen Tipi. Harpstennah war eingeschlafen, aber Harka war noch wach, und er hörte, wie die Mutter und die Großmutter miteinander flüsterten. Der Vater war noch nicht ins Zelt gekommen; er weilte zur Beratung bei dem Unterhäuptling Sonnenregen.

      Harka war in den letzten Stunden der vergangenen Nacht auf dem Moospolster an der Quelle eingeschlafen, aber jetzt im Zelt schlief er nicht. Er dachte an das Geheimnis der Höhle, das er nicht erfahren hatte, an die Fußspur, an den Aufbruch am kommenden Morgen, und er hörte Stunde um Stunde den Klagegesang, der vom Zelt des Weißen Büffel herüberdrang. Weißer Büffel war tot.

      Auch Harka war darüber erschrocken. Am kommenden Morgen sollten die Tipis zu neuen Jagdgründen aufbrechen. In den neuen Jagdgründen würde man neue feindliche Nachbarn haben. Die Bärenbande aber besaß nun einen tapferen und besonnenen Krieger weniger. Vor dem Zelt des Weißen Büffel erschallte immer noch der langgezogene Klagegesang. Eintönig und schauerlich klang er, wie abgelauscht dem Heulen der wilden Wölfe.

      Harka horchte auf den Schritt, der sich dem eigenen Tipi näherte. Der Vater kam heim. Als er eingetreten war und sein Lager aufgesucht hatte, kam über Harka eine große entspannende Ruhe. Er hörte noch die Atemzüge des Vaters, dann war er selbst fest eingeschlafen. Seine letzte bewusste Vorstellung beim Hinübersinken in den Schlummer war der kommende Sonnenaufgang und der bevorstehende Aufbruch zu dem großen Zug in unbekannte Prärien.

      Aber es war etwas anderes, was ihn schon nach einigen Stunden wieder weckte. Der Wind, der tagelang geweht hatte, war plötzlich in einen Sturm übergegangen. Er raste über die weite Prärie, er brach sich an den Waldbergen, fauchte in den Wipfeln und blies selbst wider die Zelte auf der geschützt liegenden Waldwiese, so dass sich die Planen bauchten und die langen Fichtenstangen zitterten. Hoch oben am Berg krachte, dröhnte und kreischte es, wie es splitternde und stürzende Stämme tun. Es war ein Geräusch, das sofort das ganze Zeltlager alarmierte. Im Wald entstand ein Windbruch. Harka schlang rasch den Lendengürtel um und weckte den jüngeren Bruder. Die Großmutter war schon auf; die Mutter holte eben das Mädchen Uinonah aus dem Schlaf. Harka blickte sich nach dem Vater um, aber dieser musste das Zelt schon verlassen haben; er war nicht mehr zu sehen. Das Krachen und Kreischen verstärkte sich. Der Sturm schien ganze Waldhänge niederzubrechen.

      Harka kroch auf allen vieren aus dem Tipi, um sicher zu sein, dass ihn der Sturm auf der Wiese nicht umreißen würde. In den Wipfeln rauschte es ringsum mit unheimlicher Macht, die Stämme bogen sich tief, und schon wieder schrie und dröhnte es von brechenden Stämmen weiter oben am Berg. Das Geräusch ging durch alle Nerven. Die Zelte wurden geschüttelt. Man konnte sie nicht einmal abschlagen, weil die Planen, von den Pflöcken gelöst, sofort vom Winde gepeitscht die Zeltstangen umgerissen und zerbrochen hätten.

      Die Frauen, Kinder und Alten fanden sich in der Mitte der Wiese zusammen, wo die geringste Gefahr bestand. Dorthin drängten sich auch die Pferde und die Hunde. Die Männer und Burschen blieben bei den Zelten, um sofort anzufassen, wenn ein Zelt losgerissen werden sollte. Das Tipi war neben den Waffen der wertvollste Besitz jeder Familie und nicht leicht zu ersetzen, wenn es verlorenging. Denn die Büffel, aus deren Haut die Zeltplanen bestanden, mussten erst aufgespürt und gejagt werden, und das Trocknen und Gerben der Häute, die jede Nässe und Kälte auszuhalten und abzuhalten hatten, dauerte mit dem Gerbverfahren der Indianer sehr lange.

      Harka wachte mit Tschetan zusammen bei den Zelten Mattotaupas und Sonnenregens; die beiden hielten die aus Büffelsehnen bestehenden Zeltschnüre und die Pflöcke fest, wo die Planen sich loszureißen drohten. Hin und wieder äugten sie zueinander hin. Der Sturm wehte nicht gleichmäßig. Zuweilen ließ er nach, dann kam wieder eine Bö. Die größte Gefahr war, dass Luftwirbel entstehen konnten. In der höheren Luftregion schien das schon der Fall zu sein. Harka beobachtete, wie ein ganzer Baum mit Wurzeln und dürrem Geäst vom Berg herab durch die Luft gewirbelt wurde; er konnte seine Bahn nur ein Stück weit im eigentümlich milchig gefärbten Luftraum verfolgen. Wahrscheinlich schleppte der Sturm seine Beute weit auf die Prärie hinaus.

      Vom Berg polterte ein Felsblock, der von Eis und Tauwetter schon gelockert gewesen sein mochte und der jetzt vielleicht mit einem losgerissenen Baum zusammen in Bewegung gesetzt worden war. Er rollte und sprang, das gefahrdrohende Geräusch näherte sich der Waldlichtung mit den Zelten, und es blieb Menschen und Tieren nichts anderes übrig als zu warten, wohin der Block treffen würde.

      Mit einem dumpfen Krach blieb er genau zu Beginn der Wiese in der Erde stecken; mit einer Spitze und Kante hatte er sich festgebohrt. Alle atmeten auf.

      Endlich nahm das Rauschen und Brausen etwas ab, und der Druck auf die Zelte ließ allmählich nach.