Ich sortierte die durcheinander geratenen Bauteile. Eines ließ mich inne halten: Ich war offenbar ohne es zu wissen stolzer Besitzer eines lichtempfindlichen Widerstandes. Es handelte sich um eine linsengroße Scheibe mit zwei Anschlussdrähten. Auf der Scheibe konnte ich mit der Lupe winzig kleine Leiterbahnen erkennen.
Ich verkabelte den Widerstand provisorisch mit meinem einfachen Zeiger-Messgerät und hielt ihn zuerst unter die Lampe, dann deckte ich die lichtempfindliche Fläche mit den Fingern ab. Das Messinstrument zeigte tatsächlich verschiedene Widerstandswerte an.
Bestand ein Bild nicht prinzipiell aus einer ziemlich großen Anzahl Bildpunkte unterschiedlicher Helligkeit?
Ich stand auf, schaltete den Fernseher an und wartete ungeduldig, bis sich die Röhre erwärmt hatte. Auf dem dritten Programm lief gerade ein Telekolleg Chemie. Ich schaltete den Ton ab und hielt meinen Lichtmesser in die obere Ecke des Bildschirms. Dort befand sich gerade die schwarze Tafel, auf die der Telekolleg-Lehrer seine Strukturformeln malte, also gab es wenig Licht und der Widerstandswert lag bei etwa 1 Megaohm. Ich verschob den Fotowiderstand ins Gesicht des Sprechers und las 100 Ohm ab. Also deutlich weniger.
»Das könnte funktionieren«, sagte ich zu dem steifen Chemiker auf dem Bildschirm.
»Niemals«, rief Tommy herüber, ohne den Blick von der Dampflok zu wenden, die gerade auf der Anlage ihre Kreise zog.
Wenn ich mich richtig erinnerte, verfügte der Atari über eine ganze Reihe verschiedener Grafikmodi. Der mit der höchsten Auflösung von 320 mal 192 Punkten ermöglichte allerdings nur monochrome Bilder, kannte also nur schwarze und weiße oder dunkelrote und hellrote Pixel ohne Abstufungen. Passender, um Schwarzweiß-Fotos anzuzeigen, erschien ein Modus mit immerhin vier verschiedenen Helligkeitsstufen und 160 mal 192 etwas länglichen Bildpunkten. Ein Teil des Bildschirms würde außerdem für die Anzeige von Spielstand und aktueller Aufgabe draufgehen. Blieben grob geschätzt 160 mal 160, also läppische 25600 Bildpunkte.
Ich musste also lediglich mein Model vor eine Videokamera setzen, ihre verschieden bekleideten Zustände aufnehmen, und dann die Standbilder auf einem 25600 Messpunkte umfassenden Raster mit dem Fotowiderstand abtasten. Jedem Messpunkt konnte man aufgrund des gemessenen Widerstandswertes dann eine von vier Helligkeitsstufen zuordnen. Ich stellte mir ein kleines Programm auf dem Atari vor, das es erlaubte, für jeden Bildpunkt eine der Zifferntasten von 1 bis 4 zu drücken, um so nach und nach das ganze Bild aufzubauen und dann auf Diskette zu speichern. Anna würde mit dem lichtempfindlichen Bauteil zeilenweise über den Fernsehschirm fahren und mir jeweils die richtige Zahl diktieren. Aber bloß keinen Fehler machen!
Ich schmiss meinen Fotowiderstand aufs ungemachte Bettsofa.
Das war ja leicht. 25600 Messwerte pro Bild, und wir brauchten mehrere davon.
»Guck mich nicht so an«, sagte Tommy. »Ich mach da nicht mit. Bin doch nicht bescheuert.«
Ich aß eine halbe Tafel Schokolade und beschloss, mir ein leichteres Projekt zu suchen. Zum Beispiel: Tommy loswerden.
Ein paar Tage später
»Bist du bescheuert?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Es ist die einzige Möglichkeit, die mir eingefallen ist.«
Anna biss energisch in ihr Pausenbrot und kaute. »Wozu find Computer doch gleich gut? Aufer zum Fpielen?«
Ich verdrehte die Augen. »Sie nehmen uns Menschen unangenehme Arbeit ab«, zitierte ich mich selbst.
»So«, sagte Anna, »bloß in diesem Fall nicht, oder was? Du musst dir etwas Besseres einfallen lassen.«
»Hm«, machte ich und überlegte, mit welchen Worten ich den Plan für gescheitert erklären konnte, ohne dass sich alle Computer dieser Welt in der nächsten Ecke schämen mussten. Und vor allem, ohne dass sich unsere Wege trennen würden.
Anna fuchtelte mit dem angeknabberten Brot herum. »Dieses Fotodings vor dem Fernseher hin und her zu bewegen, ist doch eine stupide, einfache Arbeit. Bau eine Maschine dafür. Oder leite eine her.«
»Eine Maschine«, murmelte ich. »Kompliziert.«
Mit übertriebener Gestik stemmte Anna die Hände in die Hüften. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass das alles einfach ist? Die wenigsten faulen Leute werden reich, ohne jemanden zu beerben oder im Lotto zu gewinnen. Man muss schon was tun, um Erfolg zu haben. Manchmal mehr, als man eigentlich will. Du kannst die Welt nicht ändern, wenn du faul bist.«
Da mochte ich Anna nicht widersprechen. »Trotzdem. Selbst wenn wir es schaffen, Bilder in den Computer zu kriegen, würdest du wirklich eine Freundin finden, die sich vor der Kamera ...« Ich wechselte auf Flüsterlautstärke. »… auszieht?«
Anna zog mich am Jackenärmel zum nächsten Mülleimer und warf die Überreste ihrer Mahlzeit hinein. »Du hast mir nicht zugehört, oder? Erfolg fällt nicht vom Himmel. Schonmal was vom inneren Schweinehund gehört?«
»Äh … sicher.«
»Meiner heißt Egon.«
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Dein innerer Schweinehund hat einen Namen?«
»Ja. Einen fürchterlichen. Das macht es leichter, mit ihm zu schimpfen. Ihm in den Hintern zu treten oder so zu tun, als wäre er Luft.«
Aus irgendeinem Grund musste ich an Tommy denken. Der bestand ja auch nur aus Luft. Dass ich diesen Schweinehund jemals »überwunden« hätte, wäre allerdings bestenfalls eine Beschönigung gewesen.
In diesem Moment verkündete der Gong das Ende der Pause.
»Findest du, dass ich gut aussehe?«, fragte Anna leise.
Ich musste mich am Mülleimer festhalten. Verkniff mir eine Rückfrage und beeilte mich, zu antworten: »Na klar.« Hoffentlich klang das nicht zu inbrünstig. Immerhin war mindestens ein kleiner Teil von mir immer noch in dieses Mädchen verknallt. Obwohl ich mir die ganze Sache ganz anders vorgestellt hatte, konnte ich nicht abstreiten, dass mir die Situation gefiel. Wenn ich ehrlich war, hatte ich in den letzten Jahren nie so viel Spaß gehabt. Auch wenn es eine sonderbare Art von Spaß war, gemeinsam Hausaufgaben zu machen, dabei gelegentlich kalte Zehen zu wärmen und anschließend ein unmögliches Computerspiel zu erfinden. Nun – sonderbar war nur für Leute ein Schimpfwort, für die normal keines war.
»Ich muss los«, sagte Anna. »Denk drüber nach.«
»Über was genau?«, fragte ich noch, aber da war sie schon fort.
Ich dachte in der folgenden Kunst-Stunde so intensiv darüber nach, worüber ich denn nun nachdenken sollte, dass meine Lehrerin mich aufforderte, den Unterricht nicht zu stören.
Der Montag danach
An unserer Schule fand Sportunterricht strikt nach Geschlechtern getrennt statt. Ich hasste Sport aus diesem und einem weiteren Grund: Unser Lehrer scheuchte uns regelmäßig durch eine Art militärischen Trainingsparcour. Bloß die Gewehre fehlten, und Weltkriegs-Stacheldrahtverhau wurde durch ein komplexes Gebilde aus Bänken, Kästen und Seilen simuliert. Was die Mädchen in der Stunde von halb neun bis 9:15 Uhr durchmachten, wussten wir nur gerüchteweise: Von Ausdruckstanz und Ballet zu Melodien von Richard Clayderman war hinter vorgehaltener Hand die Rede.
Die strikte, an die Grenzeinrichtungen auf dem Bahnhof Berlin Friedrichstraße erinnernde Trennung im großen Schulsportkomplex hatte nur eine durchlässige Stelle: Die fensterlosen Gänge zwischen Umkleidekabinen und Hallen. Gelegentlich sah man in der Ferne mystische Wesen in rosa oder neongelben Leggins vorbeischweben oder es erklang ein hysterisches, hallendes Kichern. In solchen Momenten wurde der Sinn der Geschlechtertrennung deutlich, denn alle Jungs verwandelten sich umgehend in kreischende Affen.
Umso perplexer war ich, als ich beim Umziehen in meinem rechten Turnschuh einen zusammengefalteten Zettel fand:
9:10