Dennoch sieht man heute immer wieder gekappte Bäume oder Bäume mit kappungsähnlich eingekürzten Ästen sowohl auf öffentlichen als auch privaten Grundstücken.
Vielmals ist es die Angst vor großen Bäumen mit ihrer Beschattung und auch möglichen Problemen für die Verkehrssicherheit kombiniert mit der Überzeugung, dass ein einmaliger „Radikalschnitt“ künftig weniger Pflegeaufwand und -kosten verursacht, die zu solchen Baumverstümmelungen führt. Weil die gekappten Bäume manchmal auch Jahre nach dem Eingriff wüchsig und vital erscheinen, kann der Eindruck entstehen, dass die in dieser Weise behandelten Individuen gesund seien.
Die stark veränderte optische Erscheinung wird andererseits oft als deutlicher Verlust der vormaligen optischen (gestalterisch-architektonischen, ortsbildprägenden) Baumfunktion wahrgenommen und ist deshalb häufig Anlass für deutliche Kritik an der Maßnahme. Die gesamte Tragweite der Auswirkungen für den Baum ist aber immer noch nicht allen Ausführenden klar, weil sich beispielsweise das veränderte Wachstum und mögliche Probleme für die Bruch- und Standsicherheit erst sehr viel später zeigen.
Ehemals gekappte Bäume sind langfristig schwierige „Pflegefälle“, von denen sogar eine große Gefahr ausgehen kann. Von der Fachwelt wird deshalb gefordert, durch richtige Baumpflegemaßnahmen die Entwicklung von Bäumen zu fördern und deren Erhalt zu sichern. Daran sollten sich alle Maßnahmen am Baum selbst und in seinem Umfeld messen lassen, wenn mit Hilfe einer fachgerechten Baumpflege der langfristige Baumerhalt an dem jeweiligen Standort erreicht werden soll. Die Kappung erfüllt diese Forderung nicht.
2 Begriffe
2.1 Wachstum und Habitus
Für Bäume als ortsgebundene und langlebige Lebewesen ist die Bedeutung ihres Standortes und der dort auftretenden Umwelteinflüsse ungleich größer als für andere Pflanzen oder gar Tiere. Im natürlichen Konkurrenzkampf können sie sich normalerweise an vielen Standorten deshalb durchsetzen, weil sie rasch große Wuchshöhen und ein relativ hohes Alter erreichen können. Dabei überleben sie nicht selten jahrhundertelang ortsfest alle Umwelteinflüsse und Veränderungen (Klimaschwankungen, Jahreszeiten, Stürme, Krankheiten, Wassermangel und -überschuss, Beschattung u. ä.), weil sie von vornherein seit früher Jugend einerseits hinreichend angepasst und andererseits im Vergleich zu anderen Organismengruppen auch besonders anpassungsfähig (im Laufe des meist langen Lebens) sind (ROLOFF 2004).
Auf die Vielzahl von äußeren Einflüssen reagieren Bäume zeitverzögert und langsam durch Änderungen beim Wachstum. Dies wird durch innere Prozesse gesteuert, bei denen chemische Botenstoffe (pflanzliche Hormone = Phytohormone) die wesentliche Rolle spielen – ein Nervensystem fehlt den Pflanzen.
Ein wesentliches Ergebnis, die Ausbildung des arttypischen Kronenaufbaus (Verzweigungsmuster), ist zwar zunächst genetisch fixiert. Die Ausprägung wird aber beim Wachstum durch die Wirkung einzelner Hormone und deren Wechselwirkung gesteuert (Abbildung 1). Hierbei sind noch nicht alle Phänomene bis in das letzte Detail erforscht, jedoch können einige grundlegende Mechanismen als gesichert gelten.
Eines der wichtigsten Phytohormone, das Auxin (Indol-3-Essigsäure, IAA), fördert das Spitzenwachstum und reguliert damit maßgeblich den Kronenaufbau. Dabei ist aber nicht die Auxinkonzentration allein wichtig, sondern das artspezifische Verhältnis der Konzentrationen verschiedener Hormongruppen, welches die Entstehung von Kronenhierarchie und Habitus eines Baumes steuert.
Im Unterschied zur Synthese des Auxins, das in erster Linie im Apikalmeristem (Terminalknospe) von Sprossen und jungen Blättern gebildet wird, ist der Syntheseort der anderen beiden wichtigen Hormongruppen Cytokinine und Gibberelline an anderen Stellen im Baum zu finden (RAVEN et al. 2006; BÖHLMANN 2013).
Derzeit gibt es eine Reihe von Hinweisen, dass wahrscheinlich Wurzelspitzen Orte der Cytokininsynthese sind (RAVEN et al. 2006). Bei Wachstumsprozessen wirken die Cytokinine zu Auxin antagonistisch. Sie können durch ein erhöhtes Auftreten die Auxinproduktion stören oder hemmen und Seitentriebe zum Austreiben bringen (BÖHLMANN 2013).
Als weitere wachstumssteuernde Phytohormone werden die Gibberelline (nach dem Schlauchpilz Fusarium heterosporum = Syn. Gibberella fuikoroi) in den Blattanlagen, jungen Blättern, in den Embryonen von unreifen Samen und Früchten sowie in Pollenkörnern und Wurzelmeristemen gebildet und von dort meist ungerichtet in der Pflanze verteilt. Bemerkenswert ist hierbei, dass (im Gegensatz zum Auxin) Gibberelline auch in Wurzeln synthetisiert werden. Sie fördern das Streckungswachstum und sind ganz wesentlich an der Zellteilung des Kambiums beteiligt. Dies erfolgt im Zusammenspiel mit Auxinen, wobei bei Überwiegen von Auxin (IAA) die Bildung von Zellen des Holzteiles, bei Verschiebung zugunsten von Gibberellin die Bildung von Zellen des Bastes (Rinde) erfolgt (BÖHLMANN 2013).
Abbildung 1: Phytohormone mit wesentlichem Einfluss auf das Wachstum von Bäumen und deren hemmende bzw. fördernde Wirkungen
Alle weiteren Phytohormone wie z. B. Abscisin (wachstums- und austriebshemmend sowie wichtig für die „echte Winterruhe“) und Ethylen (Gravitropismus, Fruchtreife, Kommunikation) wirken z. T. ebenfalls in Wechselwirkung mit den drei anderen Hormonen wachstumssteuernd.
2.1.1 Apikaldominanz, Apikalkontrolle
Beim akrotonen (spitzenbetontem) Wuchs beeinflussen die Auxine in den Terminal(End)knospen am Haupttrieb (Apikalmeristem) Austriebszeitpunkt, Wuchsrichtung und Zuwachs der Seitenknospen und -triebe. Besonders im ersten Jahr führt der hemmende Einfluss, den die Spitzenknospe ausübt, zur strengen Apikaldominanz und verhindert den Austrieb der weiter unterhalb gelegenen Seitenknospen im selben Jahr vollständig. In der nächsten Vegetationsperiode wirkt diese Austriebshemmung meist nicht mehr.
Selten kann sich an vitalen Zweigen ein Seitenspross gleichzeitig mit dem Hauptspross entwickeln (Syllepsis). Aber auch dann bleiben diese sylleptischen Seitentriebe wie auch die ein Jahr später austreibenden regulären Seitentriebe mit ihrer Länge zunächst hinter dem Spitzentrieb zurück und entwickeln sich mehr oder weniger waagerecht.
Der Einfluss, den ein zentraler Leittrieb über mehrere Jahre bzw. sogar lebenslang auf seine Seitenachsen ausübt (Apikalkontrolle), verschwindet, sobald die Terminalknospe beschädigt oder entfernt wird. Dann richten sich die obersten Seitenzweige auf und es beginnt ein Konkurrenzkampf um die Apikalkontrolle, der entweder wieder zu einer Spitze – die anderen Zweige wachsen dann wieder waagerecht – oder zur Mehrstämmigkeit führt.
Ein durch die Apikalkontrolle beeinflusster Kronenaufbau ist ein wichtiges (Prüf-)Kriterium für den habitusgerechten Baumschnitt. Bei falschem Kronenschnitt, z. B. bei Kappungen oder Schnitten im Internodialbereich (statt an einer Astgabel) oder beim „Rasierschnitt“ aller Äste der Oberkrone auf eine gleichmäßige Höhe ist bei entsprechend vitalen Bäumen ein „unkontrolliertes“ Seitentriebwachstum und Austreiben die Folge. Hier ist der Folgeaufwand für die Baumpflege oft deutlich höher als bei Bäumen, die unter Beachtung der ursprünglichen Kronenhierarchie geschnitten wurden.
2.1.2 Kronenaufbau durch Stämmlinge und Ständer
Als Stämmling bezeichnet man einen „aus dem Stammkopf heraus, überwiegend aufrecht wachsenden kronenbildenden Teil eines Baumes“ (FLL 2006b). Diese Definition charakterisiert im Wesentlichen kronenbildende Teile von Laubbäumen. Bei den meisten Nadelbäumen bildet die Gipfelknospe in jeder Vegetationsperiode einen Jahrestrieb. So bilden sich i. d. R. keine konkurrierenden Stämmlinge, nur an der Gipfelknospe wächst normalerweise (genetisch bedingt) in jeder Vegetationsperiode ein dominanter aufrechter Jahrestrieb (durchgehende Hauptachse), während die Seitenzweige in der Regel untergeordnet mehr oder weniger horizontal vom Hauptstamm abstehen und erst an ihrer Spitze aufwärts gekrümmt sind.
Viele Laubbäume wachsen als Jungpflanzen zunächst