Die Hirntod-Falle. Richard Fuchs. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Fuchs
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783961455010
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stellt fest: »… für mich als Neurologe ist völlig klar, dass der Mensch, wenn er nicht mehr erleben, nicht mehr wahrnehmen, nicht mehr fühlen kann, dass er dann kein lebendiger Mensch mehr ist.«34 Argumente wie diese sollten während des Gesetzgebungsverfahrens zum Transplantationsgesetz Politiker geneigt stimmen, an den Hirntod als den Tod des Menschen zuglauben. Nicht nur Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner hielt dem entgegen: »Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen. Dies ist – so peinlich das klingt – auf jeder beliebigen logischen Ebene zu begründen.«35

      Rückenmark: Teil des integrierenden Zentralnervensystems

      Während die im Dienste der Transplantationsmedizin stehenden Neurologen ihren Blick auf das Gehirn fokussiert haben, richtete der Neurochirurg Prof. Dr. Andreas Zieger den Blick auf das erweiterte neuronale Netz des menschlichen Körpers, indem er zunächst feststellt:

      »Es ist auch mit genauen Messmethoden nicht hundertprozentig genau zu bestimmen, wann das Gehirn abgestorben ist. Eigentlich müsste das gesamte Rückenmark mit eingeschlossen sein, weil es Teil des integrierenden Zentralnervensystems des Menschen ist. Das Rückenmark integriert Sensibilität und Motorik fast des gesamten Körpers. (…) Mit dem Tieferwerden des Komas erlöschen immer mehr Hirnstammreflexe, während spinale Reflextätigkeiten erhalten bleiben. Diese motorische Leistung und Verhaltensphänomene, wie sie bei Hirntoten in Form von Umarmungen oder Schreibbewegungen zu beobachten sind, sogenannte Lazarusphänomene, werden entsprechend der Logik des Hirntodkonzeptes als bedeutungslose Reflexe und Automatismen, Spinalisationen abgewertet. Das Rückenmark ist aber nicht einfach – ich sagte es schon – isoliert zu sehen, es hat etwas mit der Integration des autonomen Selbst zu tun.«36

      Eine lang anhaltende Wirkung einer Erfahrung, die nur wenige Minuten dauerte

      Dank der Forschungsarbeit37 des niederländischen Kardiologen Dr. Pim van Lommel ist es möglich geworden, den Blick auf die Geheimnisse des menschlichen Daseins nochmals zu erweitern. Van Lommel ist allerdings nicht der erste, der sich zu Fragen des »endlosen Bewusstseins« äußert, wie etwa der Hirnforscher und Nobelpreisträger für Medizin, Sir John Eccles (1903 – 1997). Ausgehend von Berichten von Menschen mit Nahtoderfahrung (NTE) zieht van Lommel die Möglichkeit in Betracht, dass Menschen während eines Herzstillstandes noch ein Bewusstsein haben können. Dabei handelt es sich um Menschen, die nach einem klinischen Tod wiederbelebt wurden und von ungewöhnlichen Bewusstseinserfahrungen während dieser wenigen Minuten berichteten. Es werden auch andere Umstände wie Schock, Koma, naher Tod durch Ertrinken genannt, bei denen von solchen Nahtoderfahrungen berichtet wird. Nach einer aktuellen Stichprobe in Deutschland und den USA müssen vier Prozent der gesamten Bevölkerung eine Nahtoderfahrung gehabt haben. Das wären in Deutschland drei Millionen Menschen. Davon berichtet wird allerdings eher selten – aus Furcht, von Ärzten nicht ernst genommen zu werden, wie van Lommel bestätigt:

      »Eines Tages hatten wir eine Konferenz zu Nahtoderfahrungen mit mehr als 300 Menschen in einem Universitätskrankenhaus. Am Ende eines Vortrags stand ein Mann auf und sagte: ›Ich bin seit 25 Jahren Kardiologe und ich habe noch nie so absurde Geschichten gehört! Das ist totaler Unsinn. Ich glaube kein Wort davon.‹ Darauf stand ein anderer Mann im Publikum auf und erwiderte: ›Ich bin einer Ihrer Patienten. Ich hatte während eines Herzstillstandes eine Nahtoderfahrung. Und Sie wären der Letzte, dem ich davon erzählen würde.‹«38

      Im Jahr 1969 war van Lommel zum ersten Mal mit Nahtoderfahrungen in Kontakt gekommen. Während seiner Facharztausbildung als Kardiologe wurde ein Patient erfolgreich wiederbelebt. Er war zum Erstaunen aller sehr enttäuscht, als er aufgewacht war und erzählte, dass er durch einen Tunnel gegangen sei und ein Licht und schöne Farben gesehen habe und Musik gehört hätte. Jahre später, 1975, schrieb Raymond Moody zum ersten Mal ein Buch über Nahtoderfahrungen. Dabei handelte es sich um Phänomene, die weltweit in allen Kulturen und zu allen Zeiten beschrieben worden waren. Bekannt ist auch das Bild von Hieronymus Bosch aus dem Jahr 1480, auf dem zu sehen ist, wie Verstorbene durch einen Tunnel ins Licht geleitet werden.

      Van Lommel selbst begann 1986 systematisch seine Patienten zu befragen. Er wollte wissen, warum Menschen während der Phase des klinischen Todes Bewusstsein erleben können. Er und seine Kollegen fragten 344 Patienten, die einen Herzstillstand überlebt hatten.

      18 Prozent der Patienten hatten eine Erinnerung. Niemand schilderte eine negative Erfahrung. Acht Jahre beanspruchte die Langzeitstudie insgesamt. Das paradoxe Ergebnis: »Dass gerade in einer Phase, in der die Durchblutung des Gehirns vollkommen zum Erliegen kommt, ein erweitertes Bewusstsein sowie logische Denkprozesse möglich sind, führt uns zu der für unser heutiges Verständnis besonders heiklen Frage zwischen Bewusstsein und Gehirnfunktionen. Das Gehirn müsste eigentlich die Funktion des Bewusstseins stoppen. Die Menschen haben einen Herzstillstand, keinen Körperreflex, keine Hirnstammaktivitäten mehr, haben keinen Atem mehr, und in diesem Moment haben die Patienten ein erweitertes, sehr helles Bewusstsein, erweiterter als je zuvor.

      ›Die heutige Wissenschaft hat das Bewusstsein bisher ausschließlich im Gehirn verankert.‹ (…) Wir müssen zugeben, dass es nicht möglich ist, das Bewusstsein auf neuronale Prozesse zu reduzieren, denn es ist eine unbewiesene Annahme, dass das Bewusstsein und die Erinnerung dem Gehirn alleine entstammen.«39

      Würden diese Forschungsergebnisse in weiteren Kreisen der Medizin wahrgenommen werden, müsste das zu einem Paradigmenwechsel in der westlichen Wissenschaft führen. Das hätte dann praktische Auswirkungen, zum Beispiel bei der Pflege komatöser oder sterbender Patienten und auch vordringlich bei der Organentnahme zu Transplantationszwecken. Denn es ist zu befürchten, dass die Patienten das inhumane Geschehen auf einer bestimmten Ebene noch wahrnehmen werden.

      EINE KURZE GESCHICHTE DER UN- UND HALB-WAHRHEITEN

      »Sie können nicht einfach hergehen und den Leuten die Herzen rausnehmen.«

      Dr. Irvine H. Page (1901 – 1991), Präsident der American Heart Association, kritisierte 1968 Christiaan Barnard nach seiner ersten Herztransplantation. Zitiert nach: Barnard, Christiaan: Das zweite Leben, München 1993.

      Als am 3. Dezember 1967 in Kapstadt das erste Herz verpflanzt wurde, ging die Nachricht als Zeichen der Hoffnung um die ganze Welt. Es war zugleich ein Angriff auf die Integrität und Würde der nicht einwilligungsfähigen Patienten. Sie wurden wider Willen sogenannte »Organspender«. Bis 1967 hatte es kein Chirurg gewagt, ein Herz zu transplantieren, obwohl die Operationstechnik vielfach an Tieren erprobt worden war. Die US-amerikanischen Ärzte Norman Edward Shumway (1923 – 2006) und Richard Rowland Lower (1929 – 2008) hatten die entscheidende Forschung für Organtransplantationen geleistet und ihre Erkenntnisse in medizinischen Fachzeitschriften publiziert. Dennoch konnten sich die US-Behörden zunächst zu keiner Genehmigung durchringen. In Südafrika, im damaligen Land der Apartheid, aber waren die rechtlichen und ethischen Barrieren niedriger als in westlichen Industrienationen, und so brach der Bure Christiaan Barnard (1922 – 2001) das Tabu und griff zum Skalpell, nachdem er die Technik von den amerikanischen Chirurgen studiert hatte. Er wurde berühmt – zunächst als Herzchirurg, dann als Herzensbrecher. Ein Journalist der New York Times warf in einem Interview Barnard vor: »Dr. Dwight E. Harken aus Boston behauptet, Sie hätten Shumway die Technik gestohlen?«40 Und im Washington Evening Star hieß es unter der Headline »Südamerikaner schafft es als erster: Gemüsehändler lebt mit verpflanztem Herzen« weiter: »In den Kommentaren führender amerikanischer Herzspezialisten, die gehofft hatten, auf dem Gebiet der Herztransplantation die ersten zu sein, gibt es gewisse Anzeichen von Berufsneid.«2

      War die verletzte 25-jährige Denise Darvall wirklich bereits tot?

      Das Herz als Verkörperung der Lebensmitte oder Sitz der Seele war plötzlich zum auswechselbaren Ersatzteil geworden. Welche Identitätskrisen für den Empfänger durch die Implantation eines fremden Herzens entstehen würden und auch gesundheitliche Probleme, war ungeklärt. Dennoch genügte die Tatsache als solche, ein Herz verpflanzen zu können, um die Weltöffentlichkeit zu interessieren. Doch annähernd alle Kriterien, die als Voraussetzung für ein Überleben nach der Operation des 54-jährigen Empfängers Louis Washkansky