»Hirntod«-Diagnose im Interesse Dritter
Die klinische »Hirntod«-Diagnose an dem komatösen Patienten kann, je nach Zustand des Betroffenen, ein schmerzhafter Prozess sein – wie gesagt, obligatorisch unter Verzicht auf Schmerzmittel. Es ist ein nicht indizierter Eingriff, der in der Regel der Organbeschaffung dient. Angehörigen, die über die Schritte einer Hirntoddiagnose aufgeklärt werden sollten, wird nicht selten diese Information vorenthalten. Die klinischen Untersuchungen können u. a. folgende Tests beinhalten: Provokation der Augenhornhaut mit einem Fremdkörper, testen des Pupillenreflexes durch Lichteinfall, Stechen in die Nasenwand, Reizen des Rachenraums mit einem Gegenstand zum Testen des Würge- und Hustenreflexes, schnelles Drehen oder Kippen des Kopfes, Setzen eines heftigen Schmerzes zur Reizung von Reflexen, Reizung des Bronchialraums durch Absaugkatheter, festes Drücken der Augäpfel, Gießen von Eiswasser in die Gehörgänge.
Am Ende muss der Arzt einen Apnoe-Test durchführen. Die Bundesärztekammer empfiehlt, diesen Test zuletzt zu machen, »wegen der physiologischen Folgen der Hyperkapnie« – des CO2-Überschusses in einem Körper mit Sauerstoffmangel. Die Beatmung wird abgestellt, um zu beobachten, ob der Patient noch selbst Luft holt, wenn die Erstickung einsetzt. Dazu schreibt der brasilianische Neurologe Cicero Coimbra, dieser Test könne zu einem Kollaps der Blutzirkulation im Hirn, auch zum Herzstillstand führen. Potenzielle Folge sei dann ein unwiderruflicher Hirnschaden. International wird darüber diskutiert, dass organprojektive Maßnahmen das Risiko bergen, dass ein Patient in ein Wachkoma fällt, bevor der Hirntod diagnostiziert ist oder dass präfinale Patienten, die einen Herzstillstand erleiden, reanimiert werden, damit danach der Hirntod und dadurch wieder die Organentnahme möglich wird.
Wenn auch ein Teil des Repertoires zu den normalen neurologischen Tests zählt, darf das nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Interesse einer Organentnahme dazu keine Einwilligung des Betroffenen vorliegt, geschweige denn, zuvor darüber aufgeklärt wurde. Wer jemals solche Prozeduren in einer Filmaufnahme gesehen hat, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Patient wie ein »Werkstück« behandelt wird.
Die Koma-Forschung zeigt: Der Patient reagiert auf ein schweres, schockartiges Erlebnis mit einer tiefgreifenden gesamtkörperlichen Stilllegung, einer Hemmung, einem »Totstellreflex« oder einer »Katastrophenreaktion«. Sein intuitives Verhalten kann dann lebensbedrohliche Folgen haben, wenn er sich bei einer invasiven Hirntod-Diagnose aus Furcht davor tot stellt.15 Der untersuchende Arzt findet dann u. U. bei einem regungslosen Patienten das bestätigt, was er erwartet hat.
Andererseits zeigen als hirntot diagnostizierte Patienten durchaus noch sichtbare Lebenszeichen. Der als »Lazarus-Zeichen«16 bezeichnete spinale Reflex macht deutlich, dass der Patient noch lebt. Wenn ein Hirntoter eine Krankenschwester umarmt – wie geschehen – kann es sich um einen solchen Reflex handeln, dem Transplantationsmediziner allerdings keine besondere Bedeutung beimessen. Heute weiß man aber, dass das Rückenmark als integraler Bestandteil des Zentralnervensystems Sensibilität und Motorik des Körpers steuert. Aktivitäten des Körpers und andere Fähigkeiten setzen keineswegs und ausschließlich eine intakte Gehirntätigkeit voraus. Wie Forschungen zeigen, dienen das Rückenmark und der Vagusnerv als eine Art Standleitung für die Kommunikation zwischen dem Kopfhirn und dem »zweiten Hirn«, dem »Bauchhirn«. Wenn landläufig von »Bauchgefühl« die Rede ist, das nicht selten als Entscheidungshilfe dient, könnte man auch an eine umgekehrte Reihenfolge denken. Dieses zweite Gehirn, so haben Neurowissenschaftler herausgefunden, ist quasi ein Abbild des Kopfhirns – Zelltypen, Wirkstoffe und Rezeptoren sind exakt gleich.17 Wenn also Vertreter der BÄK behaupten, der Ausfall des Gehirns eines Menschen bedeute »schließlich den Verlust der unersetzlichen physischen Grundlage seines leiblich-geistigen Daseins in dieser Welt«18 und sei deshalb ein sicheres Todeszeichen, spricht das für eine sehr verengte Sicht auf den menschlichen Körper.
Wie sicher sind »Hirntod«-Diagnosen?
Eine Hirntoddiagnose setzt viel Erfahrung voraus, sicher muss sie dennoch nicht sein, soweit auf apparative Untersuchungen verzichtet wird. Das Fachwissen für diese Diagnose scheint nicht in jeder Klinik vorhanden zu sein, wie eine Studie in Niedersachsen zeigt. Das zumindest beklagte der Präsident des Verbandes der Leitenden Krankenhausärzte (VLK), Prof. Dr. Hans-Fred Weiser, 2006 im Deutschen Ärzteblatt. Er kritisierte die Reduzierung fester, mobiler Spezialteams für die Hirntoddiagnostik aus Kostengründen. 2004 hatte die Deutsche Stiftung Organtransplantation beschlossen, den Bereitschaftsdienst für die mobilen Ärzteteams abzuschaffen, die vor allem in den kleinen Krankenhäusern den Hirntod eines hirngeschädigten Patienten feststellen sollen.
Seit Anfang 2006 wurden nun die Konsiliar-Teams pauschal pro Einsatz bezahlt. »Die Folge ist, dass keine festen Teams mehr zu Verfügung stehen«, sagte der ehemalige Leiter des mobilen Konsiliarteams der Region Nord, Prof. Dr. Hermann Deutschmann (1949 – 2014).19 Stattdessen müssten die Teams von Fall zu Fall nach dem »Lasso-Prinzip« zusammengestellt und »eingefangen werden«. »Da geht viel Zeit verloren. Wird der Hirntod zu spät festgestellt, sind die Organe verloren«, sagte der leitende Oberarzt vom Klinikum Hannover-Nordstadt.20 Ähnlich sieht das auch der VLK-Präsident Weiser: »Es klappt – aber auf fraglichem Niveau«.21
Niedergelassene Neurologen, die seit Jahren kein Beatmungsgerät mehr gesehen haben
Die DSO greife vermehrt auf niedergelassene Neurologen zurück, die aber keine aktuellen Erfahrungen mit der Arbeit auf Intensivstationen hätten. »Ein Niedergelassener, der seit Jahren kein Beatmungsgerät mehr gesehen hat, kann nicht einfach Apnoe-Tests22 durchführen oder den Hirntod diagnostizieren.« Zudem kümmere sich die DSO nur noch eingeschränkt um die Qualität der vormals zum Teil zertifizierten Spezialteams. »Die Untersucher bescheinigen sich die Qualität jetzt selbst und machen sich so zu Experten«, so Weiser. Bei der DSO wollte man hingegen von den Problemen nichts wissen. Laut dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der DSO, Kirste, sei das Ganze seit 2000 bundesweit geregelt.
In über einem Drittel der Fälle wurde ein Hirntod fälschlicherweise vermutet
Wie oben bereits erwähnt, untersuchte der Neurologe Prof. Dr. Deutschmann in einer internen Studie über die DSO-Regionen Mitte und Nordost, wie sicher die Hirntoddiagnostik in den Kliniken in der Region sei. Das Ergebnis war: »Nicht selten werde zudem der Hirntod von den Ärzten in kleineren Krankenhäusern, aber auch in Unikliniken fälschlicherweise vermutet oder nicht exakt nach den Regeln der Bundesärztekammer festgestellt. Das Team der Deutschen Stiftung Organtransplantation aus Niedersachsen etwa habe bei knapp 50 Untersuchungen in 21 Fällen den Hirntod nicht sichern können.«23
Das entspricht mehr als einem Drittel der Patienten. Es ist wahrscheinlich, dass diese potenziellen »Organspender« Stunden vorher keine Schmerzmittel mehr bekommen haben. Wenn also ein Hirntod nur vermutet und über entsprechende Diagnosen nicht seriös aufgeklärt wird, nimmt man billigend in Kauf, dass das Unwissen gutwilliger Menschen im Interesse der Organbeschaffung ausgenutzt wird. Wenn Angehörige zur Freigabe des Patienten gebeten werden, geschieht das zudem noch unter Ausnutzung des vagen Begriffs »mutmaßlicher Wille«.
1992: Die Leichen leben noch
Spätestens der Fall des »Erlanger Babys« hätte auch Kirchenvertretern die Augen öffnen können. Denn 1992 entbrannte erstmals die öffentliche Diskussion um die Transplantationsmedizin. Mit der 40-tägigen »posthumen« Schwangerschaft der 18-jährigen Marion P. in der Universitätsklinik Erlangen wurde plötzlich klar, was Transplantationsmediziner Jahre verschwiegen hatten: Die Leichen leben noch. »Hirntod«, ein Vierteljahrhundert als Tod des Menschen propagiert, war nun ein viel diskutiertes Thema in den Medien und in der Öffentlichkeit. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass für die noch lebende schwangere Frau am 8. Oktober 1992 drei Tage nach der Einlieferung der Totenschein ausgestellt wurde – zunächst mit der Option auf Entnahme der Organe. Prof. W. Höfling schreibt hierzu: »Bemerkenswert