Dann sind da die Steatitsiegel. Wie Du Dich erinnerst, zeigten die meisten Bilder von Tieren. Eine kleine Anzahl zeigt auch menschliche Gestalten. Anders als bei den anderen großen Zivilisationen des Orients sind solche Bilder selten und haben wenig mit dem täglichen Leben zu tun. Die Sumerer liebten es, gesellschaftliche Ereignisse, höfisches Leben, Arbeit, Feiern, Reisen und die Mythen und Versammlung der Götter darzustellen; die Indusleute mieden solche Themen. Ihre menschlichen Darstellungen könnten Menschen sein oder auch Gottheiten. Manche Figuren haben ausgefeilte Kronen, andere tragen Hörner. Es wurde spekuliert, diese seien Gottheiten. Immerhin haben die Sumerer die Hörnerkrone als Symbol für viele ihrer Hochgötter verwendet, und nach ihnen eine ganze Reihe alter Kulturen des Orients. Doch im Industal begegnen wir solcherart geschmückten Menschen, welche ganz so aussehen, als würden sie Bäume und Pflanzen verehren. Handelt es sich um eine Art von Priesterschaft? Galten die Kulte jener Epoche der Vegetation? Die Verehrung von fantastischen Bäumen und Pflanzen taucht auf mehreren Siegeln auf, und gelegentlich gibt es menschliche Figuren, die zwischen den Bäumen stehen und vielleicht Verehrung empfangen. Sollen wir annehmen, dass die Yakṣas, die Baum- und Pflanzengeister der späteren hinduistischen Mythologie, ihren Ursprung in dieser Epoche haben? Beweisbar ist auch hier nichts, doch möglich ist es allemal. Es gibt auch Bilder, die Götter darzustellen scheinen. Manche von ihnen sind dreiköpfig, sie sitzen mit gekreuzten Beinen zwischen Tieren. Auch hier hat die Phantasie der Forscher zu erstaunlichen Deutungen geführt. Zunächst einmal wurden die Figuren im Schneidersitz gerne als frühe Belege für Yoga gedeutet. Diese Annahme ist, wie White (2011 : 48-59) detailliert darstellt, völlig unhaltbar. Der frühe Yoga kennt keine Sitzhaltungen; diese wurden erst um das dritte bis vierte Jahrhundert unserer Zeit langsam bei Randgruppen populär, und die frühesten Darstellungen sitzender Yogīs erscheinen erst um das sechste Jahrhundert herum, also rund 2500 Jahre nach dem Untergang der Industalkultur. Die dreiköpfigen Figuren wurden auch gerne als frühe Darstellungen des wesentlich späteren Gottes Śiva erklärt, der den Titel Paśupati hat: Herr der Haustiere bzw. Herr der Tiere. Die Tiere umringen die Figur, als wären sie noch nicht domestiziert, also haben wir es vielleicht mit Śivas Vorgänger Rudra zu tun, der tatsächlich auch ein Herr der wilden Wälder und ihrer Tiere ist. Es ist jedoch schwer zu sagen, ob die Figur männlich oder weiblich ist, da alle klaren Geschlechtsmerkmale fehlen. Ein angeblicher Phallus könnte genauso gut ein Teil eines Gürtels sein. Auch die Brustgegend ist nicht eindeutig identifizierbar. Das Thema ist ausgesprochen mehrdeutig: Gottheiten, egal ob männlich oder weiblich, die zwischen Tieren thronen, sind im gesamten Nahen und Mittleren Osten ausgesprochen häufig. Sie werden von der Fachwelt als Herr oder Herrin der Tiere bezeichnet. Früher galten sie als einheitliches Thema; heute werden sie wesentlich vorsichtiger behandelt, denn die Figuren haben ausgesprochen unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Funktionen. Wer hier, im Stil der vergleichenden Religionswissenschaften, versucht, alles auf einen simplen Archetypus zu reduzieren, verpasst ungeheuer viel. Damit sind wir so ratlos wie bisher. Die beliebten Verallgemeinerungen der letzten Forschergenerationen sind überholt. Die weiblichen Ton-Statuetten sind nicht unbedingt die (oder eine) große Göttin. Der sitzende Gott ist nicht unbedingt Śiva/Rudra. Wie unbequem für all die Enthusiasten, die sie für einen Beweis einer ‘tantrischen’ Religion der Induskultur halten.
Bild 5
Proto-Yantras in der Felskunst.
Meist prähistorisch (oder schwer zu datieren).
Oben links und Mitte links: Diagramme, Chambal-Tal, Indien.
Oben rechts: Labyrinth, Tikla, Madhya Pradesh.
Mitte rechts: quadratische Diagramme, Kharwai, Raisen, Madhya Pradesh.
Unten links: Mesolithische Bilder von Stieren, Jägern, Pfau, Hand, Fisch (?) und Yoni-Dreieck, Bhimbetka, Madhya Pradesh. Unten rechts: Stierköpfe, Chambal-Tal, Zentralindien.
Wir wissen so wenig über die Bewohner jener Städte, dass jeder Versuch, deren Religion zu definieren, auf Spekulation hinausläuft. Man könnte sogar argumentieren, die Industalleute hätten überhaupt keine Religion gehabt. Das ist, zugegeben, recht unwahrscheinlich, aber auch nicht zu widerlegen. Sollen wir uns eine Reihe von kleinen Haushaltsritualen vorstellen? Oder große Rituale, die keine Spuren hinterlassen haben? Hatten die Städte überhaupt eine gemeinsame Religion? Bedenkt man die enormen Abstände zwischen manchen Städten, ist eine eigenständige Entwicklung fast unvermeidlich. Aus den Städten im östlichen Teil der Kultur (Rājasthān, Haryana und Guyarāt) sind weniger Figürchen überliefert als aus denen im Westen. Waren sie weniger religiös? Gab es hier andere ethnische Gruppen? Und während es schon schwierig ist, Vermutungen über die Bewohner der Städte anzustellen, ist das bei den Dörflern und der Landbevölkerung, die weder Siegel noch Figürchen hatte, noch viel schwieriger. Wir haben also im Industal eine Menge wunderbarer Rätsel, die noch ganze Forschergenerationen beschäftigen werden.
Und wie endete die Industalkultur? In älteren Studien kann man viele Spekulationen darüber finden, wie die gewalttätigen Ārya mit ihren gut ausgebildeten Kriegern und ihren von Pferden gezogenen Streitwagen die Industalbevölkerung vernichteten. Diese Hypothese ist heute komplett überholt. Archäologisch gibt es keinen Beweis für eine solche Kriegführung, geschweige denn von den schrecklichen Massakern, die sich manche Gelehrten vorstellten.
Es stellte sich heraus, dass die Induszivilisation Jahrhunderte vor dem Auftauchen der arischen Migranten endete. Hier wäre es schön, eine genaue Zeitangabe zu geben. Doch diese ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unmöglich. Der Handelskontakt mit Mesopotamien endete in der frühen Alten Babylonischen Periode, also zwischen ca. 2000 und 1800 v.u.Z. Zu dieser Zeit verschob sich auch der Machtschwerpunkt vom südlichen Seeland Sumers nach Mittelmesopotamien, und der Seehandel verlor überhaupt an Bedeutung. Stattdessen belebte sich der Überlandhandel von Stadt zu Stadt, insbesondere nach dem Iran und Zentralasien, und die Handelsbeziehung nördlich in Richtung der heutigen Türkei und westlich zum Mittelmeer. Die Invasion der Ārya wird auf etwa 1500-1200 v.u.Z. datiert. Im Industal begann der Zerfall der großen Metropolen ungefähr um 1900-1800 v.u.Z.; die Hochkultur als solche scheint um 1750 v.u.Z. untergegangen zu sein. Was in der Zwischenzeit geschah, ist eine Frage, die noch nicht beantwortet werden kann.
Bild 6
Induskultur, Siegel.
Oben: Eine von mehreren Gottheiten mit drei Köpfen, Mohenjo Daro, 2,65 x 2,7 cm.
Unten: sog. 'Einhorn' und seltsame Gerätschaft, Mohenjo Daro.
Die großen alten Metropolen wurden weder geplündert noch zerstört. Die Einwohner verließen sie und nahmen fast alle nützlichen und schönen Dinge mit, über deren Funde moderne Archäologen froh wären. Was im Industal und seiner Umgebung ausgegraben wird, sind Geisterstädte. Dies bereitet vielen Gelehrten Probleme.