„Indem du am Übergang dein andauerndes Selbstgespräch mit mir unterbrichst! Das ist das einzige, womit du dem Tod Widerstand entgegenbringen kannst“, sagte er unvermittelt und, um seine Worte zu unterstreichen, legte er den Zeigefinger an seinen Mund. Dann drückte er mir die Hände auf den Solarplexus: „Deine vielen Fragen, die du wie ein beständiges Mantra vor dir herbetest, sind wie ein Panzer, durch den der Tod dich nicht erreichen kann.“
„Dann wäre der Tod nichts anderes als eine Art Loslassen des Inventars?“, ächzte ich und stiess einen gewaltigen Seufzer aus.
„Das ist‘s genau, jetzt hast du‘s erfasst!“, sagte er unvermittelt. Der Schleier zerfiel in unzählige einzelne, verschachtelte Bilder, die sich ausdehnten, bis sie mich einhüllten. „Der Tod ist, als ob du das Inventar, wie die Welt zu sein hat, aus dem Fenster wirfst. Dann erst kann dir die Erfahrung zuteilwerden, wie es ist, wenn du frei von angelernten Inhalten mit dem kosmischen Bewusstsein verschmilzt.“
Es war, als sähe ich in meinem Traum durch die halbgeschlossenen Lider in eine lichtdurchflutete Feuerglut: „Mach dich bereit und löse dich aus der Umklammerung der anerzogenen Vorstellungsinhalte, die dich in dieser materiellen Welt festhalten“, fuhr er fort. Er hielt einen Augenblick inne, und ich fühlte ein unermessliches Gefühl von Sehnsucht in mir aufsteigen.
„Sieh meine Hand.“ Er streckte mir seine rechte entgegen: „Was bedeutet sie dir?“
„Sie bedeutet mir Vertrauen und Schutz. Ich fühle mich an deiner Hand geborgen“, erwiderte ich ganz beseelt.
„Das ist nicht genug! Möchtest du wissen, was sie für dich sonst noch bedeutet?“ Ich zuckte zusammen, denn dieser freundliche, schleichende Tonfall bedeutete meist eine Falle. Ich überlegte hin und her, kam aber zu keinem Schluss. Wenn sie mehr als seine Hand war, was konnte sie dann für mich noch sein?
„Meine Hand ist ein Wegweiser in die Unterwelt!“, sagte er, und ich legte meine eigene instinktiv auf den Bauch. „Du hast sie für dich zu einem Symbol der äusseren Stärke und der inneren Führung gemacht, die dich in schwierigen Zeiten geleitet. Aber das stimmt nicht ganz.“ Ich konnte seine Stimme sehr gut in mir vernehmen: „Nur dein blinder innerer Wächter ist hier ehrlich genug, dir das Resultat deiner Wünsche und Erwartungen als das zu erklären, was sie sind“, fuhr er fort, „nämlich ein Bündel emotionaler Vorstellungen, die einerseits dazu da sind, um deine eigenen Aktivitäten zu stimulieren, und andererseits um die Begegnung mit dem Tod zu halluzinieren. Dabei bedingen beide einander: Ohne den jeweils anderen ist jede der beiden Grundsätze bedeutungslos! Ohne den Tod hätte das Leben für den Menschen keinen Sinn! Denn die definitive Wahrheit ist …“
„ … die definitive Wahrheit?“ Ich schaute ihn herausfordernd an. Die Hand, die er mir hinhielt, zuckte unmerklich, aber seine Stimme blieb fest. „Die definitive Wahrheit ist die, dass der unersetzliche Partner im Leben eines jeden Menschen der Tod ist.“
„Dieser innere Wächter, von dem du sprichst … ist das der Tod?“, wollte ich von ihm wissen.
„Ja, aber andererseits ist er auch bloss eine geistige Vorstellung.“ Er sagte, ich solle gut auf seine Worte achten, denn diese wären auf der anderen Seite mein einziger Halt. Dann empfahl er mir, sie wie verschachtelte kleine Bilderrätsel zu betrachten, die vor meinem Bewusstsein tanzten, und ich fühlte, wie ich ihnen folgte, als sie langsam aus meinem Gesichtsfeld schwebten. Zusätzlich vernahm ich zirpende, kaum hörbare Stimmen oder besser, kreisende Laute, die sich immer schneller um mein Empfinden drehten …
„Der Wächter der Seele am Ende der Träume …“ Ich spürte plötzlich diesen klaren Gedanken in mir, der wahrscheinlich von ihm ausgelöst worden war. Dann befahl er mir mit ruhiger Stimme, mich von diesen Assoziationen ziehen zu lassen und hinter ihnen über die Schwelle zu tanzen.
„ … an welchem Ende? Wessen Träume?“ Eine weiße Lichtaura zog mich an und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich mit ungeheurer Kraft ein Feuerwerk von Visionen in meinem Kopf. Es schien mir, als wären meine Gedanken in eine flüssige Lichtlache getunkt.
„Am Ende, das sich dir rückwirkend in dein bewusstes Erleben projiziert“, sagte mein Ich lächelnd zu meinem anderen Selbst. Es war in einen weiten Mantel gehüllt und zupfte sich neckisch am Ärmel, um aber sofort wieder ernst zu werden: „Wie du siehst, befindest du dich nicht mehr in dir. Du schwebst an der Decke.“ Ich sah meinen Körper unter mir im Bett liegen. „Komm jetzt zur Tür!“
Lore-ley
„Und wieso kann ich alles doppelt sehen?“, versuchte ich herauszufinden, denn gleichzeitig lag ich unten im Bett und konnte die beiden verschiedenen Frequenzbereiche um mich herum deutlich wahrnehmen, die sich wie die Speichen eines Rades um eine imaginäre Nabe in meinem Kopf drehten. Auf der geistigen Sphäre, die mir entgegenstrebte, kündete mir mein innerer Wächter den Eintritt in eine andere Welt an, während auf der materiellen Ebene Lore, die diensthabende Ärztin vom Notfall, meine Aura berührte: „Manchmal reißt die Nabelschnur“, hörte ich ihre Stimme im Raum, „mit dem der Verstand die Welt zusammenhält, und das Bewusstsein kann sich einen Moment lang in mehrdimensionalen Bewusstseinszuständen verlieren, in denen Raum und Zeit aufgehoben sind. Deshalb pendelst du in diesem Augenblick zwischen Verstand und außerkörperlicher Wahrnehmung, denn du stehst im Begriff, dich von deinem Leib zu lösen, und im Augenblick stehen dir beide Türen offen.“
Szenenwechsel: Wie auf einen Paukenschlag ertönte plötzlich eine mehrdimensionale Stimme neben mir: „Nur dem, der am Ende seines Weges angekommen ist, zeige ich mich als sein Spiegelbild.“ Die Leuchtkraft war verschwunden und die Gestalt verschmolz nahezu mit der Dunkelheit. Jemand erfasste meine zitternde Hand und sprach: „Deshalb erscheine ich dir als dein blinder Wächter, der dich führt und dem du in deiner dualen Wahrnehmung begegnen kannst, ohne dass du von ihm verschluckt wirst. Denn wärst du nicht durch deine eigene Blindheit geschützt, würden dir deine inneren Bilder um die Ohren fliegen, denn alles, was du hier erlebst, sind deine unkoordinierten Gedankenströme im Hirn.“
„Was ist denn nur los?“, seufzte ich laut. „Meine duale Wahrnehmung ist doch auch eine Seite vom Ganzen und gehört zu mir. Sie ist Teil meines Wesens und zeigt mir alles, was ich sehen muss, um zu erkennen, was in dieser Welt vorgeht. Ohne sie hätte ich keinen Maßstab, um zu beurteilen, was ich in diesem Augenblick empfinde“, quengelte ich weiter. Ich musste meine Gedanken einen Moment lang ordnen. „Warum gibt mir keiner die Möglichkeit, mein Ende aktiv zu gestalten, um sehen zu lernen? Nur wenn ich das schaffe, kann es mir auch gelingen, mich selbst zu erkennen!“
Jemand schaute mich aus Meinem Spiegel bekümmert an und in seinen leeren Augen lag so viel Traurigkeit, dass ich heftig zu weinen begann. Mit einem Mal spürte ich das sensible Gefühl meiner Emotionen. Mich überfiel eine unglaubliche Seelenqual. Ich musste unwillkürlich schluchzen und umarmte ihn. Dann explodierte mein Kopf; ich spürte einen heftigen Schlag.
Im nächsten Moment erlebte ich eine Vision auf der inneren Bewusstseinsbühne und plötzlich wusste ich, wer ich war: „Ich bin aus vielen multiplen Teilen zusammengesetzt, von denen jeder seine eigene Erinnerung besitzt, die sich durch den Geist erkunden lassen, wenn der Mensch seine Träume und seine außerkörperlichen Erfahrungen nacherleben will“, war meine innere Botschaft. „Und wer bist du?“, brüllte ich noch unter Schock.
„Ich bin Dein inneres Bild“, sagte die Erscheinung neben meinem Bett ungerührt, „nicht Niemand, sondern eine gefühlte Projektion deiner inspirativen Selbstwahrnehmung!“ Ich schaute die Gestalt im Spiegel nur verwundert an.
„Was für eine Projektion?“, wollte ich wissen. Mir wurde augenblicklich schwindelig und ziemlich schlecht. Sofort schlief ich nochmals ein und erst im Traum hatte ich wieder das Gefühl, mich selbst zu sein.
„Eine