2. Die Gründung der St. Antony-Hütte oder: Wie westfälische Schinken die Hüttenindustrie des Ruhrgebiets begründeten
Abb. 2: Freiherr Franz von Wenge zu Diek (1707 – 1788), nach einem Gemälde von Ernst Linnenkamp
In diese öde Landschaft brach Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Entwicklung ein.7 Voraussetzung dafür war die Nutzung eines unter der „Wüste“ und dem Moor lagernden Bodenschatzes, dem Raseneisenerz. Raseneisenerz ist ein Sumpferz, das in Niederungen von Flüssen und in Mooren vorkommen kann. Es bildet sich, wenn eisenhaltiges Grundwasser starken Schwankungen ausgesetzt ist und Eisenteilchen sich an Böden oder Wurzeln anlagern. Reichert sich das Eisen mit der Zeit an, entstehen bis zu wenige Dezimeter dicke Schichten, die über 50 Prozent Eisen enthalten können. Das Raseneisenerz befindet sich oberflächennah, das heißt etwa einen Spaten tief unter dem Boden, und verteilt sich über große Flächen. Sein Abbau greift weitflächig in die Bodenbeschaffenheit der Landschaft ein. Für die landwirtschaftliche Bodennutzung ist der Abbau dennoch lukrativ: Einerseits schafft er für die auf recht unfruchtbaren Böden arbeitenden Bauern eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit. Andererseits wird der Boden nach Gewinnung des Erzes für eine landwirtschaftliche Nutzung fruchtbarer.8
Um diesen Schatz an Erz zu heben, bedurfte es eines Pioniers, der die Chance erkannte und zu erheblichen Investitionen fähig und bereit war. Dieser Pionier war Franz Ferdinand Nicolaus Lambertus Otto Joseph von Wenge (1707 – 1788). Im August 1707 auf Gut Portendieck, dem Stammsitz der Familie, in Schonnebeck bei Essen geboren, wendete sich Franz Ferdinand von Wenge einer geistlichen Karriere zu.9 Am 6. November 1736 wurde er in das ▶ Domkapitel von Münster, der Regierung des Fürstbistums, berufen. Das Fürstbistum Münster galt zu dieser Zeit als eines der am stärksten aufgeklärten und fortschrittlichsten geistlichen Fürstentümer in Deutschland. Aus seiner Tätigkeit als Domkapitular bezog von Wenge regelmäßige Einkünfte aus kirchlichen Besitztümern. Hierzu zählte auch das ▶ Archidiakonat Winterswijk am Niederrhein,10 in dessen Nähe schon Mitte des 18. Jahrhunderts mehrere Eisenhütten betrieben wurden: seit 1689 die Rekhemer Hütte in Doetinchen, seit 1729 die St. Michaelis Eisenhütte in Liedern bei Bocholt und ab 1754 eine Eisenhütte in Ulft. Alle drei Hütten arbeiteten mit Holzkohle und Raseneisenerz als örtlichen Rohstoffen. Auch bei Haus Broich in der Nähe von Mülheim soll zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits Eisen in Rennöfen geschmolzen worden sein.
Vielleicht kam von Wenge auf diese Weise mit der Eisenverhüttung in Kontakt, ansonsten sind seine Motive eine Eisenhütte zu errichten nicht überliefert.11 Auch dürfte bekannt gewesen sein, dass Raseneisenerz auch an den Ufern von Emscher und Lippe lagerte. 1740 betätigte sich von Wenge erstmals montanindustriell, als ihn am 11. November die Essener Fürstäbtissin mit dem „Bleiberg auf Isingerfeld bei Steele“ zur Erzgewinnung belehnte. Weitere Nachrichten über diese industrielle Betätigung von Wenges gibt es jedoch nicht.12
Kurz nach der Jahreswende 1740/41 wendete sich von Wenge dann den Erzvorkommen im Vest Recklinghausen zu, das zu dieser Zeit Teil des Fürstbistums Köln war. Am 25. Februar 1741 erreichte ein Schreiben den Kölner Erzbischof Clemens August von Bayern – in Personalunion ebenfalls Fürstbischof von Münster, Hildesheim, Osnabrück und Paderborn sowie Herrscher über weitere deutsche Territorien. Von Wenge, als Domherr in Münster stand er in Clemens Augusts Diensten, stellte in dem Schreiben zunächst fest, dass sich „in der gegendt von Osterfeldt und Buer“ im Vest Recklinghausen ein „Verstreueter steiniger ohrgrundt befinde, woraus dem äußerlich ansehen nach wohl einiges eisen zu erzwingen seyn mögte“. Wenge teilte seinem Landesherrn dann mit, dass er die Eisengewinnung plane. Anschließend stellte er das Gesuch, er nannte es „Approbation“, dieses Erz graben und auf seine Tauglichkeit auf eine Verhüttung prüfen zu dürfen. Sollte das Erz brauchbar sein, so erwartete von Wenge für das Vest Recklinghausen einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, wo bisher „fast kein Commercium vorhanden“ sei. Er deutete aber auch an, dass „große Kosten und mühe erforderlich seynd“, um das Erz gewinnen und verwerten zu können.13
Abb. 3: Clemens August von Bayern (1700 – 1761), Erzbischof und Kurfürst von Köln (ab 1723), Fürstbischof von Münster (ab 1719), Paderborn, Hildesheim und Osnabrück
Abb. 4: Erste Seite des am 17. Mai 1752 bei der Hofkammer in Bonn eingegangenen Antrags Franz von Wenges zur Genehmigung der Errichtung einer Eisenhütte (zeitgenössische Abschrift)
Die Hofkammer in Bonn beantwortete noch am Tag, an dem der Antrag von Wenges eingegangen war, das Schreiben und stellte von Wenge einen Mutschein für ein „Eisenbergwerk“ aus. Damit war ihm erlaubt, im Vest Recklinghausen nach Erz zu suchen und dieses auf seine Eignung zur Verhüttung zu prüfen. Üblicherweise wurde nach Freilegung des Erzes vom Besitzer des Mutscheins eine Belehnung mit den Erzfunden beantragt, womit die Erlaubnis zur Ausbeutung der Erzfunde, eigentlich landesherrliches Recht, verbunden war. Im Mutschein vom 25. Februar 1741 wurde von Wenge daher vorgeschrieben, „binnen gehöriger Zeit“ die Belehnung mit einem Eisensteinbergwerk zu beantragen.14
Dieser Vorgabe kam von Wenge jedoch nicht so schnell nach. Es ist nicht festzustellen, ob er noch kein Erz gesucht hatte oder ob er auf Schwierigkeiten bei der Suche gestoßen war. Auf jeden Fall wiederholte er nach zweieinhalb Jahren, am 12. Oktober 1743, seinen Antrag auf Erteilung eines Mutscheins. In weiten Teilen war das Schreiben wortgleich mit dem Antrag von 1741. Wenge bat dieses Mal „gnädigst“ um „ein besonderes protectorium“, damit bei der Erzsuche keine Behinderungen auftreten könnten.15 Wieder reagierte die kurkölnische Hofkammer in Bonn rasch. Schon am 15. Oktober stellte sie von Wenge eine „Cameralerklärung anstatt eines Muthscheins“ aus. Die erste halbe Seite des Schreibens war allein mit der Auflistung einer Auswahl der Titel des Landesherrn Clemens August gefüllt. Der Rest der Seite setzte sich dann allgemein mit der Förderung des Bergbaus im Erzbistum Köln auseinander, wobei auch auf die mögliche Errichtung eines Poch- und Schmelzwerks hingewiesen wurde. Erst die zweite Seite des Schreibens erlaubte von Wenge erneut und nun ausführlich, im Vest Recklinghausen bei Osterfeld ein Eisensteinbergwerk anzulegen. Ihm wurde zugesichert, sobald er das Erz freigelegt habe, das Bergwerk als Lehen zu empfangen, doch wurde ihm aufgegeben, sich an die in der Bergordnung festgesetzten Fristen zu halten.16
Es ist nicht zu vermuten, dass der Freiherr von Wenge als Geistlicher über größere Kenntnisse der Hüttentechnik verfügte. Offensichtlich war er aber vermögend und risikofreudig genug, sich auf die Ausbeutung und Nutzung der Eisenerzlager des Vestes Recklinghausen einzulassen. Und er hatte Ausdauer! Die nächsten Quellen zur Geschichte der St. Antony-Hütte, dieser Name wurde für das Werk erstmals 1764 erwähnt,17 finden sich dann erst wieder 1752. Ob von Wenge mittlerweile Erz gefunden hatte oder überhaupt eine Suche veranlasst hatte, ist nicht festzustellen. Auf jeden Fall zogen sich die Arbeiten zur ▶ Mutung in die Länge. Doch der angehende Unternehmer bereitete die nächsten Schritte schon vor. Am 17. Mai 1752 beantragte er bei der Hofkammer in Bonn die Belehnung mit dem Recht, eine Eisenhütte zu errichten.18 Die lange Dauer zwischen der Erteilung des Mutscheins und dem weiteren Fortgang der Arbeiten begründete er mit großen Schwierigkeiten, die bisher aufgetreten waren, um das Erz zu finden und zu prüfen. Er betonte, dass in der Umgebung des Vestes bisher keine „Bergverständige“ leben würden und daher Fachleute „aus entlegenen orthen mit sonder große Kösten“ angeworben werden mussten. Erst nachdem er erneut den künftigen großen Nutzen einer Eisenhütte für den kölnischen Staat betont hatte und feststellte, dass er nicht ermüden würde, das Projekt weiter zu führen, bat Wenge um die „Belehnung mit der freyheit und rechte in ahnlegung einer Eißenhütten, und dazu zum guss, Ziehung, und Hammer dienlich oefen, und Haüßer“. Für den Fall der Belehnung erbat er zugleich eine Befreiung von allen Abgaben, Zöllen und Steuern für dreißig Jahre, wie es in ähnlichen Fällen bereits im Hochstift Münster gewährt worden war.