»Was hat das denn damit zu tun? Ich wollte dich … es ist doch normal, dass man um eine Beziehung, um jemanden, den man liebt, kämpft. Ich dachte –« Sie stockte.
»Genau! Und damit lieferst du ihnen das Motiv auf einem Silbertablett. – Verstehst du jetzt, was ich meine?«
»Ja«, sagte sie tonlos. »Ja, ich verstehe.«
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Lena hatte geputzt, Kunden bedient und schließlich auch noch einen Teil des Lagers aufgeräumt. Sie hatte den ganzen Tag nicht mehr daran gedacht, aber jetzt, als sie die Wohnungstüre aufschloss, ging ihr erster Blick zum Fenster. Die Dächer lagen in der Abendsonne. Das sanfte Licht wirkte wie ein Weichzeichner.
In der kurzen Mittagspause hatte sie im Kaffeehaus hastig die Zeitungen durchgeblättert und keinen Hinweis gefunden. Aber – nach einem Tag konnte man noch gar nichts sagen. Wenn einer vermisst wurde, wenn jemand eine Leiche fand, dauerte es wohl seine Zeit, bis die Zeitungen darüber berichteten. Sie hatte nie darüber nachgedacht.
Sie schlüpfte aus den Schuhen, dann aus ihren Kleidern. Ließ die Badewanne volllaufen, träufelte etwas Mandelöl ins Wasser und tauchte bis zum Kinn unter. Versuchte sich zu entspannen, schloss die Augen und riss sie gleich wieder auf. Sie schnupperte, bewegte ihre Hände, sah ihren Körper zerfließen und wieder ganz werden und versuchte, an nichts zu denken.
Wie das wohl war, wenn man plötzlich das Gleichgewicht verlor, stürzte, fiel? Aus großer Höhe. Begriff man in diesem Augenblick, was geschah? Dass man sterben wird. Schrie man? Verlor man die Stimme, den Verstand, während man auf den Boden zuraste und aufschlug? Spürte man den Aufprall? Einen Schlag? Wie innen alles kaputtging, die Lunge zerriss und in sich zusammenfiel, die Haut aufplatzte und die Knochen brachen? Man konnte wohl nichts mehr denken … Was, wenn man am Ende, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz, noch am Leben war? Zwischen den Müllcontainern auf dem Betonboden lag, mit zerschlagenem Schädel, im eigenen Blut, halb betäubt und wimmernd vor Schmerzen – und niemand kam?
Sie rutschte zur Seite und ließ heißes Wasser nachlaufen.
Gesetzt den Fall, ihr, Lena, würde etwas zustoßen: Wie lange würde es dauern, bis jemand sie vermissen, nach ihr suchen würde?
In den beiden Wohnungen, die sie hütete, würden die Pflanzen verdorren. Die Katzen verhungern. Verdursten. Nein, da stand Gießwasser. Im Regal eine halbvolle Packung mit Trockenfutter. Und Katzen waren klug.
Lena sah drei großäugige klapperdürre Gerippe durch eine weitläufige Altbauwohnung staksen. Hörte das Tippen ihrer viel zu langen Krallen auf dem Parkett. Langgezogene Schreie, die ihr durch Mark und Bein gingen. Über allem lag der scharfe Geruch von Katzenpisse und Kot.
Die Leute fuhren weg und übergaben fremden Menschen, von denen sie kaum den Namen kannten, Wohnung und Tiere zur Pflege und verließen sich darauf, beides wohlbehalten vorzufinden, wenn sie gebräunt und übermüdet – mit quengelnden Kindern an der Hand und Trolleys voller Schmutzwäsche – wieder vor der Tür standen.
Sie würden den Schaden begutachten, den Dreck, die toten Pflanzen. Würden anrufen, aufgebracht, erzürnt, zunehmend wütender, während das Läuten in einer leeren Wohnung ein paar Bezirke weiter verhallte. Oder in einem Hinterhof, dachte sie.
Keine Adresse, kein Familienname. Eine Empfehlung genügte im Allgemeinen, um Zugang zur Wohnung, zum Leben anderer zu bekommen. Ein Vorname, eine Handynummer. Ein kurzes Gespräch.
»Lena. Eine Abkürzung, oder? Wie heißt du mit ganzem Namen? Magdalena?«
»Milena.«
Er wirkt überrascht. »Woher kommst du?«
»Aus Salzburg.«
»Nein, ich meine … « Er verheddert sich. »Deine Familie.«
»Aus Salzburg.«
Wären die Schorns besorgt, wenn sie verschwinden würde? Oder voller Zorn? Würden sie nachsehen, die Nachbarn fragen oder es nach ein paar erfolglosen Anrufen dabei bewenden lassen und die Schlösser austauschen?
Und Wolfgang?
»Ich hatte Pech mit meiner letzten Aushilfe. Ja, wenige Tage nach dem ersten Lohn war sie weg. Hat mich im Regen stehen lassen, mitten in der Urlaubszeit, stellt euch vor! Wenigstens hat sie den Schorns nicht die Wohnung ausgeräumt. Sehr unangenehm, das. Nun, man kann in niemanden hineinschauen. Und im Allgemeinen sind sie ja zuverlässig.«
So in etwa? Nein, sie tat ihm unrecht. Er würde sich Sorgen machen. Nachsehen. Bestimmt. Sie öffnete das Ablaufventil, stieg aus der Wanne, rubbelte sich trocken und hüllte sich in ein großes Badetuch.
Wer blieb sonst? Steffi war noch gut ein halbes Jahr unterwegs. Mit Elias herrschte seit zwei Wochen endgültig Funkstille. Erst verletzt, dann zornig hatte sie die Handynummer gewechselt, auf Facebook ihren Status geändert und zwei Tage später den Account stillgelegt. Von den anderen, die sie zurückgelassen hatte, würde sich niemand wundern, wenn sie eine Zeitlang nichts von sich hören ließ. Ihre Freundinnen – zum Großteil frühere Kolleginnen – und die wenigen Freunde waren während ihrer Beziehung mit Elias nach und nach verlorengegangen.
Hier, in Wien, kannte sie noch niemanden. Die Nachbarin rechts – Mittelalter, Hüftleiden – bekam kaum die Lippen auseinander, um »guten Morgen« zu wünschen. In der Wohnung links hörte Lena fallweise jemanden gehen oder ein Fenster zuschlagen. Oft brannte die halbe Nacht Licht. Wer immer dort lebte, schlief noch, wenn sie das Haus verließ, und machte die Nacht zum Tage. Im Lift Zufallsbegegnungen, die sie nicht zuordnen konnte.
Du bist das perfekte Opfer! Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Hatte sie eigentlich abgeschlossen? Die Sicherheitstür hatte außen einen Knauf. Trotzdem … Sie raffte das Badetuch zusammen, lief barfuß durch den Flur.
Prallte zurück: Die Klingel! Jemand war an der Tür. Sie verharrte, nur durch das Türblatt vom Unbekannten getrennt, und wagte kaum zu atmen. Ihr Puls flog. Es musste bereits acht, halb neun sein. Wieder schrillte die Glocke. Nachdrücklich. Fordernd. Ein Fremder, ganz sicher! Mit der ganzen Hand auf der Klingel – so läutete kein Nachbar. Wie war er ins Haus gekommen? Sie beschloss, sich totzustellen. Sie kannte hier niemanden. Ein Notfall? Feuer? Sie schnupperte: Nein. Überlegte, durch den Spion zu schauen, und verwarf den Gedanken sofort. Damit war klar, dass jemand zu Hause war! Sie sah sich selber: halbnackt im Flur, hektisch um sich blickend, das feuchte Badetuch über der Brust gerafft. Die Klingel gellte in ihren Ohren.
Sie machte kehrt und floh ins Wohnzimmer. Auf Zehenspitzen, wie sie grimmig feststellte. Sie schlich durch ihre Wohnung, nur, weil jemand an der Tür war! Anläutete. Sie löschte das Licht.
Plötzlich war es still. Sie wartete. Der Unbekannte hatte aufgegeben. Sie tappte zum Fenster und spähte auf die Straße. Hob zögernd den Blick. Natürlich war niemand auf dem Dach! Sie behielt den Gehsteig vor dem Haus im Auge.
Sie hätte sich ohrfeigen können. Wie konnte man so himmelschreiend blöd sein, sich ohne Not eine Paranoia anzuzüchten! Irgendein Zeug zu rauchen, sich den Kopf zu vernebeln, weil man sich nach knapp zwei Wochen beinahe allabendlichem Putzen, Waschen und Aufräumen in der nun wieder ordentlichen Steffi-Wohnung, in der neuen Stadt, plötzlich sehr allein gefühlt hatte. Weil kein Wein mehr da war. Weil man sich nicht aufraffen konnte, irgendwohin zu gehen. In ein Lokal. Sich an eine Theke zu stellen. Jemanden anzureden.
Es konnte dieser Mann da gewesen sein. Er war dunkel gekleidet und trug eine Umhängetasche. Er verlangsamte den Schritt, zögerte, wandte sich dann um und schaute zu ihren Fenstern herauf. Sie ging in Deckung. Als sie wieder auftauchte, war er verschwunden. Oder dieses Paar, die Frau … nein – die hatte kürzere Haare. Nein, der da! Es war hoffnungslos. Hirngespinste. Die