Lichtschacht. Anne Goldmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anne Goldmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежные детективы
Год издания: 0
isbn: 9783867549622
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sich und nahm ihr die Karte aus der Hand. »Was trinkst du?« Sie zuckte die Schultern. Er bestellte eine Flasche ihres Lieblingsweins. Und Pasta. Sie rollte währenddessen ihre Stoffserviette zusammen und wieder auseinander, zusammen und wieder auseinander. Es machte ihn nervös. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie trug immer noch den Ring.

      »Ich muss die ganze Zeit daran denken«, flüsterte sie. »Dass sie da liegt. Seit gestern Abend. Die ganze Nacht lang. Und einen ganzen Tag. Im engen Lichtschacht. Mit zerschmetterten Knochen. Vielleicht, vielleicht … lebt sie ja noch –« Ihre Stimme versagte. »Man kann sie doch nicht so liegen lassen!«, krächzte sie. »Wir müssen etwas tun.« Sie entzog ihm ihre Hand und massierte sich den Ringfinger.

      »Ich hab dir doch gesagt: Einen Sturz aus dieser Höhe überlebt niemand.«

      »Sie kann doch da nicht liegen bleiben. Der Gedanke macht mich verrückt. Da … ist sicher alles voller Taubenscheiße«, sie wurde lauter, »da sind bestimmt Ratten!«

      »Bitte!«, unterbrach er sie energisch.

      »Ich verstehe nicht, dass wir einfach gegangen sind.« Sie sah auf. Ihr Blick flackerte. »Du hast doch die Schlüssel. Es gibt sicher einen Zugang zum Lichthof. Wir holen sie da raus. Rufen die Polizei, was weiß ich … Wir können doch nicht einfach … «

      Er schnellte vor und packte sie am Arm. »Halt den Mund, verdammt«, zischte er. »Das ist kein Grund, hysterisch zu werden. Willst du, dass jemand Verdacht schöpft? Ja? Ja? Willst du das?«

      Sie versuchte erfolglos, ihm ihren Arm zu entwinden. Angstgeweitete Augen.

      »Wir müssen uns genau überlegen, wie wir vorgehen. Wir waren uns doch einig … «, sagte er leise. Nun hatte er sich wieder unter Kontrolle.

      Sie stöhnte. Er löste den Griff. Schlagartig veränderte sich ihr Blick. »Ich verstehe dich nicht«, murmelte sie. »Du klingst, als wäre nichts. So distanziert. So kühl.« Sie rückte ein Stück von ihm ab. Griff nach ihrem Glas, nahm hastig einen Schluck.

      »Verdammt, was erwartest du?«, fuhr er sie erneut an. Sie zuckte zusammen. Er lehnte sich zurück und fixierte sie.

      Ihr Atem ging schnell. Sie klammerte sich an ihrem Weinglas fest. »Entschuldige. Entschuldige bitte. Du hast recht. Ich rede die ganze Zeit nur von mir, und du … du … « Sie geriet ins Stocken.

      Er half ihr nicht. Er sah dem Kellner zu, wie er Gläser polierte und gegen das Licht hielt. Es waren nur wenige Gäste da. In der Nische vorne beim Eingang erregte ein ungleiches Paar seine Aufmerksamkeit. Der Mann mit Schmerbauch und Maßsakko war wesentlich älter als die Frau. Er konnte seine Hände nicht von ihr lassen. Sie lächelte nachsichtig, ein wenig verächtlich, wie ihm schien, und legte die linke Hand auf den Arm ihres Begleiters. Sofort verflocht der seine Finger mit ihren. Sie griff nach ihrem Glas, drehte es geziert, nahm einen Schluck und sah zu ihm herüber. Ihre Blicke trafen sich. Er senkte den Kopf und fixierte sie aus halb geschlossenen Augen, lächelte und wandte sich um. Mit Geld, dachte er, kannst du jede haben. Er schenkte sich Wein nach, trank und stellte das Glas wieder ab.

      Ihre Hand kroch näher. Sag was, dachte er. Mach endlich den Mund auf.

      »Du hast deine … Freundin verloren«, flüsterte sie schließlich kaum hörbar.

      »Ich will jetzt nicht daran denken«, unterbrach er sie schroff.

      Sie nickte. Wagte es nicht, seine Hand zu nehmen. Sie starrte vor sich auf den Tisch. »Es war nicht meine Schuld«, sagte sie leise. »Ich war nicht betrunken. Ich erinnere mich an alles.«

      »Ich weiß«, bestätigte er sanft. »Hör auf, dich zu quälen. Sie –«, er machte eine längere Pause, ließ seinen Blick erneut durch das Lokal schweifen und seufzte, »Kathrin hat mehrere Gläser gekippt. Mehr als ihr guttat. Die war ziemlich angesäuselt. Ist ausgerutscht … ein Unfall.«

      »Ich habe –«, sie schien mit sich zu ringen, »sie nicht besonders gemocht.«

      »Ich weiß. Es war nicht zu übersehen«, sagte er knapp.

      Sie riss die Augen auf. Ihre Mundwinkel begannen zu zittern, das Kinn bebte. Nun heulte sie. Er legte seine Hand auf ihren Unterarm, während der Kellner an den Tisch trat, den Wein einschenkte und sich bemühte, ihre Tränen zu übersehen.

      Er hob sein Glas. Sie reagierte nicht. Er trank. Die Pasta kam.

      »Ein Unfall, ja«, schniefte sie. »Ich habe ihr nichts getan. Ich habe sie nicht gestoßen. Du musst mir glauben, dass ich … ich bin nicht eifersüchtig, das weißt du doch.« Er reichte ihr ein Taschentuch, was eine neuerliche Sturzflut auslöste.

      »Bitte beruhige dich.« Er nahm einen Schluck Wein. »Tut mir leid«, sagte er, »ich sterbe vor Hunger. Wir brauchen jetzt einen klaren Kopf. Es hilft niemandem, wenn … es hilft ihr nicht mehr … «

      Sie nickte, immer noch um Fassung ringend, und stocherte in ihrer Pasta. »Aber warum gehen wir nicht einfach zur Polizei? Wir erklären, was vorgefallen ist … «

      »Einen ganzen Tag später? Was wird passieren, was meinst du?« Er sah sie eindringlich an.

      »Wir werden erzählen, wie es war … «

      »Ein Mann und seine Ex kommen aufs Kommissariat und geben an, dass sie gestern mit der neuen Freundin des Mannes auf ein Dach geklettert sind, dort getrunken haben und die Neue dann, einfach so, in den Lichtschacht gefallen ist.«

      Der Kellner näherte sich. »Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte er mit besorgtem Stirnrunzeln.

      Sie zögerte.

      Respekt. Der Mann war ein guter Schauspieler! Er lächelte ihn an. »Es ist ausgezeichnet. Meine Bekannte ist ein bisschen«, er zögerte, »indisponiert.«

      Er orderte einen Espresso, sie hielt sich an den Wein.

      »Die zwei haben nichts unternommen, nicht nachgesehen. Keine Hilfe geholt. Weder die Rettung gerufen noch die Polizei. Sie haben eine Nacht darüber geschlafen, eine zweite, und – dir ist klar, dass wir in der Sekunde beide verdächtig sind?«

      »Wir … wir können das doch erklären … «, stieß sie hervor.

      »Erklären, erklären!«, fuhr er sie an. »Kapierst du das denn nicht?« Er legte die Gabel am Tellerrand ab. »Warum kommen wir zwei Tage später, hm? Wir haben mögliche Beweise beiseitegeschafft, uns abgesprochen, wer was sagt. Sie werden annehmen, dass … «

      Sie war blass geworden. »Es war deine Idee«, sagte sie tonlos. »Ich wollte sofort … « Sie brach ab, griff nach dem Wein, trank hastig einen großen Schluck und bekam einen Hustenanfall. Er klopfte ihr auf den Rücken. Sie keuchte. Ihr Gesicht glühte, die Augen tränten. Sie sah erbärmlich aus.

      Er nahm die Gabel wieder auf.

      »In dem Zustand, in dem du gestern Abend warst, hätte man dich dort behalten«, sagte er nach einer Weile. »Und auseinandergenommen, bis du ein Geständnis ablegst. Du warst alkoholisiert. Unter Schock, hast gezittert. Du warst nahe am Durchdrehen. Wenn ich dir nicht etwas zur Beruhigung, zum Schlafen, gegeben hätte … «

      Sie starrte ihn an. Er schob seinen leeren Teller zur Seite. Sie hatte nichts gegessen, die Nudeln mit den Meeresfrüchten verrührt, sie hin und her geschoben. Nun legte sie ihre Gabel weg und knüllte die Serviette zusammen.

      Der Kellner brachte den Espresso. Er wartete, bis er außer Hörweite war. Rückte näher und nahm ihre Hand. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagte er mit Wärme in der Stimme. »Ich will nicht, dass du im Gefängnis landest. Nach allem, was war.«

      Sie neigte den Kopf ein wenig, verharrte eine Weile und legte ihn dann auf seine Schulter.

      Er strich ihr übers Haar. Zwei, drei Minuten vergingen. Dann löste sie sich von ihm.

      »Sie war deine Freundin! Man wird dir glauben … « Ihre Stimme klang jetzt gefasst, ja zuversichtlich.

      »Denk nicht, dass mir das alles leichtfällt«, unterbrach er sie. »Kathrin ist tot.« Er biss sich auf die Lippen. Schwieg. Sie