Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen. Nadia Bolz-Weber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadia Bolz-Weber
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783865068033
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sollte mal diese Lampe in Ordnung bringen“, sagte meine ältere Schwester Barbara. Die langen Leuchtstoffröhren in dem düsteren Kellerflur, der zu dem ebenerdigen Drei-Zimmer-Apartment führte, in dem ich jetzt mit sieben Mitbewohnern lebte, flackerte an und aus wie ein Strobespot und ließ unseren Weg zur dritten Wohnungstür rechts trügerisch kurz erscheinen.

      Meine Schwester und ich hatten uns die meiste Zeit meines Lebens sehr nahe gestanden. Sie gab sich auch noch mit mir ab, nachdem ich in diese schmuddelige Wohnung gezogen war. Vor Kurzem hatte ich, schon nach dem ersten Semester, das College geschmissen und besaß nur wenige Habseligkeiten, während Barb gerade ihren Doktor in Englisch an der Universität von Indiana machte und Dinge wie eine Waschmaschine und einen Trockner ihr eigen nannte. Mit meinen neunzehn Jahren besaß ich im Winter 1988 eine einzige Apfelkiste mit lebenswichtigen Dingen: ein zerfleddertes Exemplar der Vegetarischen Landküche, meine Springerstiefel, einen alten Schaufensterpuppenkopf und mehrere unverzichtbare Tonkassetten: Ziggy Stardust, Violent Femmes, Road to Ruin.

      Die Ramones. Ich war zwölf, als ich im Big Apple Tapes & Records, gegenüber vom Zuckermaisstand in der Mall of the Bluffs in Colorado Springs, das Album Road to Ruin erstand. Bis zu jenem Tag hatte es in unserem christlichen Mittelschichthaushalt nur Jim Croce, John Denver und das Kingston Trio gegeben. Doch nun mussten diese Burschen mit ihren manikürten Schnurrbärten und milden Manieren Platz machen für vier Jungs aus Queens, weil ich mein ganzes Taschengeld für Road to Ruin von den Ramones ausgegeben hatte. Wochenlang saß ich jeden Nachmittag in meinem Kinderzimmer und nudelte diese Kassette auf meinem orange-weißen Fisher-Price-Plastikkassettenrekorder ab, während ich das Cover anstierte. Im Stillen hoffte ich, vielleicht würden ja Joey und Dee Dee Ramone wie durch Zauberei in ihren zerrissenen Levis und Lederjacken bei mir zu Hause auftauchen und mich mitnehmen. Die zornige Punkmusik kam mir vor, als wäre sie eigens für mich gemacht.

      Als meine Liebesaffäre mit den Ramones begann, ahnten meine Eltern nichts davon, dass ich mir Punkrockalben kaufte. Ebenso wenig wussten sie, dass ich in der Schule Essen klaute. Die Lehrer in meiner Junior High School ließen Snacks auf ihren Pulten liegen, und ich hatte solchen Hunger, dass ich mir ihre Müsliriegel oder Chipstüten schnappte, nicht etwa, weil es zu Hause nicht genug zu essen gegeben hätte, das schon, aber ich konnte einfach nicht genug kriegen, egal, was ich mir alles in meine Brotdose oder in den Mund stopfte.

      Ich war elf, als ich allmählich anfing, immer weniger zu wiegen und immer mehr zu essen. Und meine Eltern, Dick und Peggy, mit ihrer liebevollen Art und ihrem unerschütterlichen Optimismus, dachten sich, das sei bestimmt nur ein Wachstumsschub, und munterten mich auf, stolz auf meine Größe zu sein und mich gerade aufzurichten. Als im Jahr darauf meine Handschrift so schlecht wurde, dass meine Noten ins Trudeln gerieten, kaufte mir meine Mutter ein wunderschönes Kalligrafieset in der Hoffnung, mich dadurch zu etwas mehr Ehrgeiz bei meinem Federschwung anzuspornen. Und als ich blass und antriebslos wurde, war meine Mutter der Meinung, ich müsse eben mehr hinaus an die frische Luft von Colorado und ging mit mir zum Skilanglauf. Das war der Tag, als sie merkte, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, und zwar nichts, was sich mit Disziplin und Optimismus wieder in Ordnung bringen ließ. Auf dem Weg in die Berge schlief ich auf dem Rücksitz unseres Chevy Citation, und die Bewegungen des knüppelgeschalteten Wagens drehten mir den Magen um. Später, als wir uns endlich ausstaffiert hatten und auf die Loipe gingen, kam mir mein Wollpullover so schwer vor wie eine von diesen bleiernen Röntgenschürzen, und meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Schließlich quengelte ich so lange, bis wir uns auf den Heimweg machten. Außerdem hatte ich den ganzen Proviant bereits vertilgt. Als wir nach Hause kamen, vereinbarte meine Mutter einen Termin beim Arzt.

      Wie sich herausstellte, hatte ich Morbus Basedow. Das ist eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, die im Körper allerlei lustigen Unfug anstellt: beschleunigter Herzschlag, Handzittern, Blässe der Haut, gesteigerter Stoffwechsel, Antriebslosigkeit, Manie, Depression und Hitzeempfindlichkeit. Sie wirkt wie Methamphetamin, nur ohne das gute Gefühl dabei. Ach ja, und sie ist kostenlos.

      Durch die Krankheit hatte sich hinter meinen Augen Fettgewebe angesammelt, sodass sie aus ihren Höhlen nach vorn gedrückt wurden. Meine Augäpfel wölbten sich so weit aus meinem Schädel heraus, dass ich meine Lider nicht mehr schließen konnte. Das Weiße war überall rund um die Iris zu sehen, so als hätte ich gerade einen Stromschlag abbekommen oder etwas Grauenhaftes gesehen … nur dass ich immer so aussah.

      Immer.

      Von zwölf bis sechzehn Jahren. Jeden Tag meines Lebens.

      Meine Mutter fuhr jeden Monat mit mir nach Denver zu irgendwelchen Augenärzten, die darüber wachten, dass meine Hornhäute keinen Schaden nahmen (ich schlief jetzt immer mit einer Augensalbe, damit mir die Augen nicht austrockneten), aber zugleich auch meine Gesichtsknochen vermaßen. Die Sache mit den Glupschaugen ließ sich operativ korrigieren. Aber erst, wenn meine Gesichtsknochen aufgehört hatten zu wachsen. Und wie ich herausfand, kann man seine Gesichtsknochen nicht durch Disziplin oder Optimismus vom Wachsen abhalten.

      Die meisten Jugendlichen in der Junior High School fanden, sie sähen aus wie Insekten. Bei mir stimmte das wirklich. Im Schulbus verbrachte ich an den meisten Tagen die zwanzig Minuten Fahrzeit damit, meine Handflächen auf die Augen zu pressen, weil ich dachte, wenn ich mich nur entschlossen und beharrlich genug anstrengte, könnte ich meine Augen wieder zurück in den Schädel zwängen. Aber das funktioniert einfach nicht. Jugendliche können ihre geschiedenen Eltern nicht wieder zusammenwünschen. Sie können auch nicht durch Superleistungen in der Schule ihre manisch-depressive Mutter davon abhalten, verrückt zu sein. Und sie können ihre Froschaugen nicht zurück in den Schädel zwingen, indem sie auf der Busfahrt in die Schule zwanzig Minuten lang draufdrücken. Aber das alles hat noch keine Jugendlichen davon abgehalten, es zu versuchen.

      Ich weiß nicht genau, ob der Tyrann auf der letzten Sitzreihe zur Serienausstattung aller Schulbusse in Amerika gehört, zusammen mit dem Feuerlöscher und dem großen Türhebel beim Fahrersitz, aber es kam mir jedenfalls so vor. Meine serienmäßige Tyrannin war gar nichts Besonderes: ein Mädchen namens Becky, größer als die meisten anderen, mit zerzausten Haaren, das immer Def-Leppard-T-Shirts anhatte.

      Sie bemerkte meine Handflächen über den Augen, und als sie die anderen darauf hinwies, log ich. „Was machst du denn da?“, fragte Becky höhnisch. „Willst du dir etwa die Froschaugen wieder reindrücken?“

      „Ich meditiere“, sagte ich. „Buddhistisch.“ Und dann setzte ich mich mit meinen dünnen Beinen im Schneidersitz auf die Bank im Bus.

      Am nächsten Tag setzte ich einfach eine Sonnenbrille auf.

      Irgendwann fing ich dann an, die Augen zuzukneifen und niemanden direkt anzuschauen, wenn ich durch die niedrigen Flure der Horace Mann Junior High School ging, so wie die Frühentwicklerinnen unter den Mädchen sich ihre Mappen vor die Brust hielten. Doch wenn ich auch die Augen abwandte – das Kinn ließ ich niemals sinken. Nicht ein einziges Mal.

      Jeder hat seine eigene Horrorgeschichte aus der Schulzeit. Es ist eine Feuerprobe, und was für ein Mensch schließlich aus uns wird, lässt sich meist in die siebte Klasse zurückverfolgen. Dabei reagiert jeder anders auf seine Schulerlebnisse. Was sich in mir zusammenbraute in jenen niedrigen Fluren, war mehr als nur ein „Zornproblem“, wie es später genannt wurde. Das tägliche Sperrfeuer bösartiger Bemerkungen, das mir Becky und andere entgegenspien, machte mich zwar zornig, aber irgendwie war der Zorn auch ein Schutz. Dieser Schutz bestand aus Zynismus und einem geschärften Gespür dafür, wenn Leute Bullshit erzählen. Nach einer Weile konnte ich das riechen wie ein Drogenspürhund auf einem kolumbianischen Flughafen.

      Meiner Kirchengemeinde muss ich bei all ihren Fehlern eines lassen: Sie war der einzige Ort außerhalb meines Elternhauses, wo die Leute mich nicht angafften oder sich über mich lustig machten. In der Gemeinde wurde ich mit meinem Namen begrüßt anstatt mit irgendwelchen Spottbezeichnungen. In der Gemeinde konnte ich zur Jugendgruppe gehören. In der Gemeinde starrte mich niemand an. Deshalb war es auch so schlimm für mich, dass es letzten Endes andere Gründe gab, warum ich dort nicht hinpasste.

      Dass ich zur Church of Christ gehörte – und somit Christ war –, bedeutete vor allem, dass ich sehr gut