Seidenkinder. Christina Brudereck. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Brudereck
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Секс и семейная психология
Год издания: 0
isbn: 9783865064417
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hatte er still für sich eine Art Gelübde getan: Auch wenn ich selber kein unbeschriebenes Blatt bin und meine Lebensgeschichte davon erzählt, dass ich als Halbwaise in einem Slum gelebt habe - es gibt noch weiße Stellen auf dem Papier meiner Geschichte und ich habe schreiben gelernt, ich kann sie weiterschreiben, ich werde sie mitgestalten. Wenn es stimmte - und dieses Bild war niemals ein Beweis, hatte sich aber in diesem Moment doch irgendwie in seine Seele gelegt -, dass der arme Jesus der Liebe der auferstandene Christus von Ostern war, dann war es möglich, aufzustehen, dazwischenzutreten, die tödliche Geschichte, die Routine, die Gewohnheit zu unterbrechen, mit dem Leben selbst. Dann war alles möglich. Danach hatte er eine neue Gewissheit gehabt und wusste, dass er die Energie der Kinder suchen würde.

      Er rief nach Ganesh und weckte damit seine Mutter. „Und“, fragte er, „haben uns die Gäste von gestern Abend noch etwas übrig gelassen, das wir heute essen können?“ Priya lachte ihn an: „Reis, es ist noch jede Menge Reis da.“ Auch er musste lachen. „Dann essen wir Reis“, sagte er. „Und beim Essen werden wir uns über Reis unterhalten, über den ausgetrockneten Palar und die Satyagraha der Reisbauern. Was hältst du davon?“ Priya strahlte.

      Sie aßen für eine Weile schweigend, alle drei einen großen Berg Reis vor sich auf dem Teller, dazu etwas scharfe Sauce mit Okra und Chilischoten, und genossen das einfache, sättigende Essen. Zwischen den einzelnen Happen, die sie zum Mund führten, blickten sie sich immer wieder lachend an, verschwörerisch.

      Irgendwann lehnte sich Jaya zurück und begann mit ein paar Erläuterungen: „Unsere Regierung möchte, dass Indien genug Getreide anbauen kann, um nie mehr hungern zu müssen. Das ist ja eigentlich ein sehr ehrenwertes Ziel, nicht wahr?“ Priya nickte, auch Ganesh gab ihm recht. Jaya überlegte, wie er seiner Mutter dieses sehr komplexe Problem erklären könnte, und beschloss, es einfach zu versuchen: „Weißt du, unsere traditionellen Reissorten sind in den letzten Jahren immer mehr verdrängt worden. Dafür wurden neuere Sorten bevorzugt, die ergiebiger sein sollen. Man nennt sie auch Hybridsorten. Ihr Anbau wurde vom Staat bezuschusst. Zunächst waren die Erfolge dieser Maßnahmen dann tatsächlich sehr beeindruckend. Indien konnte nach langen Jahren, in denen wir immer Reis importieren mussten, sogar einen Vorrat an Reis anlegen.“

      Priya nickte. „Das hört sich gut an, was unsere Regierung da gemacht hat. Aber du klingst, als würde es ein Problem geben?“

      Jaya musste schmunzeln. „Ja, Ma. Ein erstes Problem ist, dass das in staatlichen Speichern gelagerte Getreide zum Teil nicht verkauft wurde und die Speicher so schlecht und unpassend waren, dass am Ende immer wieder Reis vernichtet werden musste.“ Leiser, mit Bitterkeit in der Stimme, fügte er hinzu: „Weil die Ratten kamen.“ Er wollte nicht zynisch werden, aber er merkte, dass sein Ton spöttisch wurde, wenn er sich die Katastrophe in ihrem Ausmaß vor Augen malte: „Also, Indien hat einen ganzen Katalog an Maßnahmen, schafft Bewässerungssysteme, baut riesige Staudämme, holzt dafür Wälder ab und überflutet ganze Dörfer, subventioniert Dünger und Hybridsorten und am Ende geht das Ergebnis an die Ratten. Während fast vierhundert Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben.“ Er schüttelte den Kopf. „Das darf man gar nicht laut sagen, so peinlich ist das.“

      „Das muss man laut sagen, so schlimm ist das“, sagte Priya. Jaya sah sie an und nickte. „Ja, sicher, du hast natürlich recht. Denn das ist ja noch nicht alles.“

      „Was noch?“, fragte Priya überrascht. „Was kann noch schlimmer sein, als dass unser Reis an die Ratten geht?“

      „Na ja“, sagte Jaya langsam, „manche Auswirkungen zeigen sich erst nach einer Weile. Allmählich werden noch ganz andere Nachteile dieser Politik deutlich. Nach einer ersten Phase, in der die Erträge der Reisernten stark zugenommen hatten, nehmen sie jetzt deutlich ab. Und zwar, weil man zum Beispiel die ökologischen Folgen des einseitigen Reisanbaus, Wasserhaushalt und Bodenbeschaffenheit nicht bedacht hatte. Und, auch das kommt noch hinzu, diese Reispolitik hat soziale Konflikte zwischen moderneren Groß- und traditionelleren Kleinbauern ausgelöst. Chattisgarh ist ja ein sehr fruchtbarer Bundesstaat.“

      Er sah Ganesh an und dann wieder seine Mutter: „Ihr wisst doch, früher nannte man ihn eine der, Reisschüsseln des Landes`. Aber heutzutage muss die Region wieder Reis importieren und die Ergiebigkeit ihrer Landwirtschaft ist erschreckend schnell gesunken.“

      „Ach“, seufzte Priya. „Was für große Herausforderungen und wie viel Leid dahintersteckt. Aber“, fragte sie dann mit mehr Energie in ihrer Stimme, „was hat es denn jetzt mit der Satyagraha auf sich?“

      „Bei dem Konflikt“, sagte Jaya langsam, „geht es noch einmal um einen ganz anderen Gesichtspunkt. Stell dir vor, dass es große internationale Agrarkonzerne gibt, die ein Interesse an der genetischen Vielfalt indischer Kulturpflanzen haben. Sie entwickeln neue Sorten und lassen sich die dann patentieren. Und da werden die Bauern nervös, ihre Sorge ist, dass sie am Ende nicht nur kein Geld für ihr Saatgut mehr bekommen, sondern sogar noch selber dafür zahlen müssten. Eine berechtigte Sorge, glaube ich. Und deshalb kämpfen sie mit der Saatgut-Satyagraha darum, sich vor der Plünderung ihrer Artenvielfalt zu schützen. Vor dem Diebstahl ihres Erbes, könnte man auch sagen.“

      „Das sind große, große Sorgen“, sagte Priya.

      Jaya lächelte sie an. „Ja, da hast du recht. Klein sind sie nicht.“

      Sie schauten sich an, sehr nachdenklich, warfen einen Blick auf ihre leeren Teller und sahen sich wieder in die Augen. Ganesh hatte aufmerksam zugehört und besann sich jetzt auf seine Rolle im Haus und fragte: „Möchte noch jemand ein Stück Mango? Am Baum ist eine reife, die euch sicher gut schmecken würde.“

      Priya winkte ab und erklärte, sie würde sie morgen essen und jetzt zu Bett gehen, die Gespräche hatten sie angestrengt. Jaya lehnte ebenfalls dankend ab und sagte, er werde noch etwas lesen und dann ebenfalls zu Bett gehen. Morgen früh würde er schon sehr früh ins Kinderheim fahren und dann Raja zur Schule begleiten.

      Kapitel 10

       Juli 2003. Der riesige Staudamm Sardar Sarovar hat zu verheerenden Überflutungen geführt. Zahlreiche Dörfer der einheimischen Bevölkerung wurden überflutet, Ernten vernichtet, Tiere ersäuft. Umweltschutz- und Menschenrechtsorganisationen wehren sich seit mehr als fünfzehn Jahren gegen die zerstörerischen Staudammprojekte.

      Matt las und konnte nicht mehr aufhören. Er versuchte zu verstehen. Nur dieses eine Beispiel durchdenken, vielleicht stellvertretend für andere. Eine Regierung beschließt also, Staudämme zu bauen. Sie tut es in der Überzeugung, das wollte er ihr mit einem Vorschuss an Vertrauen unterstellen, dass mit diesen Dämmen Menschen geholfen werden kann, Energie zu schaffen, Land besser zu bewässern als bisher, die Lebensqualität zu steigern, Leben zu retten. Um diese Dämme bauen zu können, müssen Flüsse gestaut und Landstriche geflutet werden. Das bedeutet, dass ganze Dörfer umgesiedelt werden.

      Hier beginnt das erste Problem. Diese Menschen wollen ihr Land nicht verlassen. Wer könnte das nicht verstehen? Wer sollte sie zwingen dürfen? Nun, aber vielleicht würden sie sich bereitwillig opfern, wenn mit ihrem Umzug anderen, vielen anderen Menschen geholfen werden kann. Sie sind vielleicht bereit dazu. Aber man gibt ihnen im Austausch zu ihrem bisher besiedelten Land nicht etwa gleichwertiges Land anderswo, niemand entschädigt sie, man zahlt ihnen ein paar lächerliche Rupien und dann kommt man mit Planierraupen und Sprengungen, Wälder werden abgeholzt, Ernten vernichtet und die Menschen werden verjagt. Kinder, Erwachsene, Mütter, Väter, Großeltern. Menschen, die ihr Leben lang in den Urwäldern gelebt haben, sind plötzlich gezwungen, in der Großstadt zurechtzukommen. Es ist unmöglich. Sie schaffen es nicht. Und andere, die sich nicht verjagen lassen oder nicht rechtzeitig gewarnt werden, um fliehen zu können, müssen erleben, wie das Wasser ihr Land überschwemmt, ihre Hütten mitnimmt, ihre Tiere, ihre Kinder, sie selbst. Und hier ging es nicht um ein paar Einzelfälle, sondern um Tausende, Zehntausende, ja, wenn er es richtig sah, inzwischen Hunderttausende.

      In allen offiziellen