Endlich um 18.40 Uhr hört sie Hannos liebe Stimme am anderen Ende der Leitung sagen: „Bin auf dem Heimweg und wollte dir nur sagen, dass ich mich auf morgen freue. Wie war denn dein Tag?“
„Habe Essen gemacht und den Kamin abgespachtelt, aber nicht, dass du denkst, ich wäre zu selbstständig; kann nur nicht immer nach Hilfe schreien und mache das, was ich kann, selber.“ Hanno: „Ich habe zwar nicht zwei linke Hände, aber alles kann ich auch nicht. Freue mich auf morgen.“
„Ich freue mich auch auf morgen und danke für deinen Anruf.“ Mara ist selig.
Am nächsten Tag steht Mara schon früh auf, denn sie hat sich viel vorgenommen: Saugen, Kamin streichen, einkaufen und dann noch einmal den Kamin streichen, duschen und was ziehe ich an, sollte ich mich dekorieren?
Ihr Sohn Julian hat ihr die Gartenpforte gestrichen und den Pfosten gerichtet; nun wünscht er sich ein großes Eis.
Da klingelt das Telefon und Hanno fragt, ob er auch etwas früher kommen könnte. „Ja, natürlich, gerne“, hört sie sich sagen. „Schaffe ich noch das Eis? Ach, da ist noch Dreck an der Pforte. Nun aber dalli.“
„Julian, kannst du mir bitte helfen? Ich habe noch nichts gegessen, nur ein Viertel vom Apfel und Zähne muss ich auch noch putzen. Ja, das Eis mache ich dir sofort.“
Gerade noch so geschafft, da steht Hanno auch schon vor der Haustür und strahlt Mara durch die Scheiben an und Mara strahlt zurück. Sie öffnet die Tür und bittet Hanno hineinzukommen. Hanno überreicht ihr einen wunderschönen Blumenstrauß mit den Worten: „Ich hoffe, du magst so etwas.“
„Aber natürlich, Dankeschön, wie lieb von dir.“ Hanno ist sichtlich unsicher, wie er Mara begrüßen soll, ob Hand geben oder doch umarmen, da nimmt Mara ihm diese Entscheidung ab, indem sie ihn einfach liebevoll umarmt.
Mit beiden Händen hält Hanno einen Brief hoch und sagt: „Und dann habe ich dir noch dieses mitgebracht.“
„Oh, so einen dicken Brief für mich. Gleich werde ich ihn lesen, aber ich denke, ich sollte erst einmal diese wunderschönen Blumen (drei rote Gerbera, drei weiße Rosen und eine Rispe mit weißen Blüten von schönem Blattwerk umgeben) ins Wasser stellen. Mara schaut im Wohnzimmer nach einer passenden Vase und entscheidet sich für einen blauen Krug im Landhausstil, wobei sie überlegt, die blaue Manschette, da sie farblich nicht so gut zum Krug passt, zu entfernen, da bittet Hanno sie: „Du, lass das mit den Blumen erst einmal, lass sie bitte dort stehen. Komm, ich möchte mich auf dich konzentrieren. Bitte lies jetzt den Brief.“
„Okay, mache ich im Wohnzimmer“, und sie gehen hinein. Mara nimmt am Esstisch Platz, weil sie dort besseres Licht hat, und setzt ihre Lesebrille auf.
Hanno möchte lieber auf dem Sofa sitzen und sie beobachten; so fragt Mara ganz aufgeregt: „Bin ich traurig, wenn ich den gelesen habe?“
„Nein, das glaube ich nicht. Habe mal so aufgeschrieben, wie es mir gegangen ist und auch was von mir, damit du mich ein wenig kennenlernst.
Mara holt den Brief aus dem Umschlag und sagt: „Kann mich nicht erinnern, dass ich je einen Liebesbrief bekommen habe. Alles mit Füller geschrieben und sieben Seiten lang. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals und sie beginnt zu lesen:
Timmendorfer Strand, Pfingstdienstag,
05. Juni 2001
Teure!
Es ist mir entfallen, ob wir uns duzten oder siezten. Wenn ich nun spaßeshalber die zweite Person Plural verwende, so nicht aus Nostalgie, sondern aus Verlegenheit. „Ruf an!“ oder „Rufen Sie an!“ sagtet Ihr gestern, heute morgen leichthin, als wir miteinander sprachen und ich Euch mit der Bemerkung zu halten suchte, ich hätte Euch noch etwas zu sagen. Jetzt schreibe ich. Ihr wisst ja nicht, auf welchen gerade fruchtbaren Boden Eure Aufforderung, etwas zu sagen, fiel. Ihr konntet nicht ahnen, dass ich, der wildeste aller Schreiber, mir gerade bei Euch vorgenommen hatte, nicht zu schreiben.
Alles begann mit Briefen. Aber nicht deshalb wollte ich nicht schreiben, damit keine Liebschaft begänne – ganz im Gegenteil: Ich bin rasend interessiert daran, mit Euch Unmengen von Kaffee und Tee, von Whiskey und Wein zu trinken. Euch dabei glühend anzufunkeln und ständig in größter Unaufdringlichkeit zu beschwören, doch eine wilde Liaison mit mir einzugehen. Aber ich wollte dieses Ziel endlich einmal ohne das Mittel des Briefes erreichen; ich wollte endlich einmal ohne diese Krücke auskommen. Mühelos und elegant gewunden kommen in Briefen die Geständnisse daher, unwidersprochen kann ich die Argumente der Leidenschaft ausbreiten, stammeln, toben, schluchzen – und wonach immer mir zumute ist. Nie wird man unterbrochen, nie heißt es: „Fassen Sie sich!“ Ein-zwei-drei hat man das Herz der Begehrten erobert. – Ihr zweifelt?
Als Ihr gestern den Raum betratet, erloschen augenblicklich all meine anderen Interessen. Gerade war ich im Begriff gewesen, ein besonders schwieriges Kapitel der Schlacht von Agincourt zu verstehen, doch sofort ließ ich meine Bemühungen fahren, um Euch fortan zu beobachten; ich hoffe, möglichst unauffällig. Wie sehr es um mich geschehen war, konnte ich nicht nur an dem Zerfall meiner beruflichen Interessen messen, sondern Eurem Haar wie Körper, erregten schlagartig mein Entrücken. Dazu Eure vorbildliche Nase, Euer prüfender Blick. –
Ich war schwach, bin es noch immer, und wie lange ich es sein werde, hängt von Euch ab.
Das Äußere allein hätte bewirkt, dass mir in den nächsten Tagen und vielleicht auch Wochen die unvermeidlich wollüstigen Gedanken gemacht und Euer Bild hervorgerufen hätte, um mir den Jammer des Alltags zu versüßen. Meine Verknalltheit schlug dann jäh vom Bauch in Kopf und Herz, als ich Euch sprechen hörte. In diesem Augenblick empfand ich eine rasende Solidarität, eine so göttlichgeile Komplizenschaft, eine impertinente Sicherheit, dass wir uns verstehen würden.
Fortan war es um mich geschehen.
Ich liebe Euch, versteht Ihr, und ich sehe nicht ein, wieso ich ein anderes Wort dafür verwenden sollte. Diese Vorsicht mit dem Wort „Liebe“, dieses bedächtige Antasten, ob es auch wahrhaftig Liebe sei, was man da empfindet, dieses ständige Zweifeln und Abwägen hält die Liebe in einer unguten künstlichen Höhe; da mache ich nicht mit.
Eben dies hätte ich Euch so gerne noch gesagt, Ihr hättet gelächelt und mir freundlich zugenickt, dass ich betrunken sei. Ich hätte auf der Nüchternheit meiner Aussage bestanden und versucht eine Verabredung mit Euch festzumachen.
Ihr werdet nun möglicherweise sagen: Was will der denn? So ein Briefchen, ob es nun schmeichelt oder belästigt, ist nicht so übel; besser solche Botschaften per Brief, als wenn er mir mit roten Ohren im Treppenhaus Geständnisse gemacht hätte. –
Aber glaubt mir, ich blicke auf eine 20-jährige Erfahrung als Liebesbriefschreiber zurück. Ich weiß, warum ich Bedenken habe. Lasst mich kurz die Geschichte meiner Liebschaften erzählen, damit Ihr wisst, warum ich Euch einerseits gerne schreibe, andererseits Briefe als Hindernis ansehe.
Mein Mangel bestand immer darin, aus dem Rudel der Bewerber nicht überdeutlich hervorzuragen. Weder war ich ja ein besonders guter Fußballspieler noch ein fantastischer Säufer, nie war ich größer, stärker, intelligenter, gutaussehender, reicher als andere, immer nur guter Durchschnitt, also auch nie so armselig bemitleidenswert, dass ich via Mitleid hätte die Liebe der Frauen erschleichen können. Was also tun zwischen all den Rivalen? Als Verachter des waltenden Darwinismus war mir das drängende Gebuhle zuwider, das in den Dörfern, Kleinstädten, Großstadtvierteln, Schulklassen, Universitäten und auch auf allen Festen von einer Handvoll Männer um die schönste Frau am Platz veranstaltet wird.
Hier entdeckte ich den Brief als segensreiches Mittel mir in aller Ruhe Gehör zu verschaffen und ungestört vom Treiben der Nebenbuhler mein eindeutiges Anliegen möglichst vieldeutig vorzutragen.
So wie jetzt saß ich schon in jungen Jahren am Tisch, tunkte, um mir vollends wie