Es gab ständig etwas Neues zu sehen. Und ehe sie sich versahen, standen sie schon vor dem Priel. Dort blieben sie wie versprochen stehen, und beobachteten eine Weile die anderen Wattwanderer. Es waren nur noch vereinzelt Leute in ihrer Nähe. Die meisten befanden sich bereits auf dem Rückweg. Auch Lisa und Tim machten sich wie versprochen auf den Weg zurück zum Strand.
Nach einer Weile fiel Tim auf, dass Lisa seit Minuten schweigend neben ihm herlief. Das kam eigentlich nur vor, wenn sie über etwas angestrengt nachdachte. Neugierig, was seine Schwester so sehr beschäftigte, stupste er sie an.
„He, Lisa, was ist los?“, wollte er wissen. „Ach, nichts, alles okay, ich denke nur darüber nach das Mama so oft fragt ob es uns gut geht. Ich glaube sie macht sich große Sorgen wegen unserer Geistergeschichten. Hast du wirklich keine Angst, wenn so ein Geist uns ruft? Also, ich schon etwas, aber nicht mehr so doll wie am Anfang. Und du?“
„Na, geht so, ist aber okay. Zusammen sind wir doch schon echt stark, finde ich. Und die Moorliesel hat uns ja auch immer geholfen.“
„Stimmt! Weißt du was ich auch komisch finde? Mama hat ihre Kette mit dem Bernstein-Anhänger neben die Eingangstür gehängt. Warum trägt sie die eigentlich nie? Und warum mussten wir versprechen den Anhänger nicht anzufassen! Wenn ich an ihm vorbeigehe, spüre ich, wie er Kraft und Wärme ausstrahlt. Du auch?“
„Ja, genau, hab aber nicht so richtig darüber nachgedacht. Sag mal, … diese Kette war doch ein Geschenk von Papa zu unserer Geburt! Nächsten Monat haben wir unseren zehnten Geburtstag. Meinst du, sie hängt deswegen im Flur?“
„Hmm, vielleicht wartet aber eine neue Aufgabe auf uns und die Kette führt uns dahin. Mama kann das aber doch gar nicht wissen? Sie ist ja kein Geistseher.“
„Stimmt genau, dann sollten wir heute Abend mal nachsehen, ob neue Federn im magischen Versteck sind.“
Am Abend kletterten beide auf den Baum bis zur Gabelung. Sie öffneten das Geheimfach des magischen Buches. Etwas enttäuscht bemerkten sie, dass keine Federn in dem Spalt waren. Sie setzten sich auf den dicken Ast und warteten darauf, ob die Eule „Gesine“ ihnen doch noch zwei Federn bringen würde. So sehr sie auch lauschten, es geschah nichts. Nur einmal hörten sie den leisen Ruf der Eule über ihren Köpfen und das Rauschen der Flügel, doch Gesine flog weiter in Richtung Wernerwald. Hatte die Kette doch etwas mit ihrem Geburtstag zu tun? Nur, warum hing sie jetzt im Flur? Das musste auf jeden Fall etwas zu bedeuten haben. Tim meinte, sie sollten einfach mal fragen, doch Lisa war dagegen. Sie erklärte ihrem Bruder wortreich, dass ja vielleicht mit der Kette eine Überraschung zusammen hing. Durch ihre Fragerei würden sie dann alles verderben. Das sah Tim ein. Sie einigten sich, bis zu ihrem Geburtstag keine Fragen zu stellen. Beide verschlossen symbolisch ihren Mund, in dem sie den Daumen und Zeigefinger aneinander legten, und von links nach rechts über den Mund strichen. Danach kletterten sie runter. Es war schon spät, und höchste Zeit schlafen zu gehen. Morgen hatten sie schließlich ihren ersten Schultag in Sahlenburg.
Am Morgen, pünktlich um 7.00 Uhr, ertönte ein hoher, schriller Pfiff im Hause Brünner. Danach folgte mit lautem Singsang der Weckruf ihrer Mutter:
„Hintern hoch, die Schule beginnt,
raus aus den Federn muss jedes Kind!“
Seit der Besichtigung des Segelschulschiff „Gloria“ vor einigen Tagen, wollte Tim uuunbedingt eine „Bootsmann-Pfeife“ haben. Mit dieser speziellen Pfeife, und einem derben Spruch, werden die Marinesoldaten morgens geweckt. Das fand Tim so super, dass er seine Mutter bat, auch nur noch mit dem Pfeifton und einem flotten Spruch geweckt zu werden. Nach einigem Zögern hatte sie sich doch breitschlagen lassen, und bereit erklärt, diesen Brauch zu übernehmen. Aber nur für vier Wochen, betonte sie mehrmals. Lisa ertrug diesen morgendlichen Ablauf geduldig. Im Geheimen fand sie es sogar ein wenig lustig, was sie natürlich Tim gegenüber niiie zugeben würde.
Mit Erstaunen konnte Frau Brünner feststellen, dass es plötzlich ganz einfach war, Tim morgens zum Aufstehen zu bewegen. Solange es so bleiben würde, wollte sie diesen Brauch auf jeden Fall, auch noch nach Ablauf der vier Wochen, fortsetzen.
Die neue Schule
Durch den Umzug nach Sahlenburg war für Lisa und Tim alles in der Schule fremd. So richtig toll fanden sie deswegen die ersten Schultage auch nicht. Doch ihr neuer Lehrer, Herr Genscher, gefiel ihnen sofort und mit den meisten Schülern aus ihrer Klasse verstanden sie sich inzwischen richtig gut. Außerdem hatte Herr Genscher ihnen erlaubt im Klassenzimmer nebeneinander zu sitzen was sie echt cool von ihm fanden. Mit erhobenem Zeigefinger mahnte er aber, dass sie während des Unterrichts nicht quatschen dürfen, sonst müsste er ihnen getrennte Plätze zuweisen.
Beide versprachen, natürlich mit ernster Mine und ihrem Indianer-Ehrenwort, nicht laut zu quatschen. Es wusste ja niemand in der Klasse, dass sie sich auch lautlos unterhalten könnten, wenn sie es wollten.
Die ersten Wochen verliefen ohne besondere Ereignisse, doch seit einigen Tagen gab es auf dem Schulhof nur noch ein Thema. Die Klassenfahrt mit dem Wattwagen nach Neuwerk. Alle waren aufgeregt und freuten sich riesig darauf in einer Scheune auf Stroh und Heu zu übernachten. Für Lisa und Tim war es das erste Mal mit einem Wattwagen auf dem Meeresboden der Nordsee bis zur Insel Neuwerk zu fahren.
Zwei Tage vor der Klassenfahrt wurde im Erdkunde-Unterricht über die Insel Neuwerk gesprochen.
Am Unterrichtsende stellte Herr Genscher die Frage: „Wer meldet sich freiwillig, und hält morgen ein Referat über unser heutiges Thema?“
Daraufhin wurde es totenstill im Klassenzimmer.
Herr Genscher sah fragend von einem zum anderen, doch kein Finger schnellte in die Höhe. „Na, traut sich etwa keiner?“
Diese Frage ging Lisa und Tim gehörig gegen den Strich. Sich nicht trauen, paah, und schon waren ihre Zeigefinger in der Luft.
Erfreut sah Herr Genscher die Beiden an. „Sehr gut, ihr könnt es ja gemeinsam ausarbeiten. Wer morgen das Referat hält, dürft ihr selbst entscheiden!“
In dem Moment ertönte ein lautes Klingeln. Die Unterrichtsstunde war beendet. Hastig stopften die Schüler ihre Hefte und Bücher in den Ranzen. Dann stürmten sie mit Gejohle aus dem Klassenzimmer.
„Etwas leiser bitte“, rief ihnen Herr Genscher hinterher.
Das hörten jedoch nur noch die Nachzügler und bemühten sich, solange sie in Sichtweite waren, etwas gesitteter und leiser das Schulgebäude zu verlassen.
Das Referat
Am Nachmittag schnappten sich Lisa und Tim ihre Fahrräder und sausten im Eiltempo zu Tante Edelgard. Tim hatte sich daran erinnert, vor ein paar Tagen dort ein kleines Buch über Neuwerk gesehen zu haben. Das wollten sie sich ausleihen.
Mit lautem Geklingel bogen sie in die Hofeinfahrt. Tinka, die schwarz-weiß gefleckte Hündin, kam ihnen freudig, bellend entgegen. Sie begrüßte die beiden so stürmisch, dass nur ein schneller Sprung vom Rad den Zusammenstoß verhindern konnte. Durch den Krawall angelockt, kam Tante Edelgard mit besorgtem Blick aus dem Haus. Doch als sie sah, dass nichts Schlimmes passiert war, atmete sie erleichtert auf.
„Hallo ihr beiden“, begrüßte sie Lisa und Tim. „Ich hatte schon befürchtet, dass Tinka einen Sturz verursacht hat. Sie ist noch so wild und unbeherrscht. Aber das kennt ihr ja sicher auch von Wolf. Schließlich sind die beiden Geschwister!“
„Alles klar, nix passiert“, antwortete Tim. „Du, Tante Edelgard.“ Er machte eine kleine Pause.
Das nutzte Lisa aus und bevor er weiter reden konnte, vollendete sie den Satz. „Du hast doch ein Buch über Neuwerk in deinem Bücherregal, können wir uns das ausleihen? Wir müssen morgen ein Referat über