Ein 80jähriger erinnert sich. Werner Mockenhaupt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Mockenhaupt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783957440860
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Fahrzeugs werfen.

      Nach drei wunderschönen, sonnigen Tagen, im Frühjahr 1945 gab es plötzlich Unruhe in der Nachbarschaft. Mein Opa, meine Mutter, Tante Gertrud und noch andere Frauen trafen sich öfters bei uns im Keller.

      Sie flüsterten untereinander mit ernsten Mienen, und manchmal sah ich, dass meine Mutter verweinte Augen hatte. Ich schnappte auch Wortfetzen auf: wie Panzer, Amerikaner, große Geschütze, Gefahr. Mitten in der Nacht weckte mich mein Bruder und meinte: „Es liegt was in der Luft.“ Ich hörte, wie Tante Gertrud unten im Haus mit einem schreienden Kind hin und her lief. Gleichzeitig vernahm ich einzelne, schwache Detonationen in weiter Ferne. Ich fand das alles nicht so sehr wichtig, drehte mich auf die andere Seite und schlief sofort wieder ein. Der Schreck am anderen Morgen war gewaltig. Der Panzer war weg, er war wirklich nicht mehr zu sehen. Ich sah nur noch die Spuren in dem Asphalt, und die waren dann in einer matschigen Nebenstraße verschwunden. Wir hatten schon keine Schule mehr, und was sollten wir nur mit dem ganzen Tag anfangen?

      Drei Tage später, morgens um 11 Uhr, waren sie da, die amerikanischen Soldaten. Sie waren friedlich und schenkten uns weißes Brot. Einen Tag später kamen drei amerikanische Offiziere.

      Sie inspizierten die Spuren des deutschen Panzers, machten Skizzen und befragten meine Mutter, die aber nichts verstehen konnte. Viel später erst habe ich verstanden welches Glück wir hatten, dass der große deutsche Panzer beizeiten das Weite gesucht hatte. Es wäre noch lange auf beiden Seiten geschossen worden, und es hätte sicher auch Tote und Verletzte gegeben, weil in der Nachbarschaft ja viele Kinder, Frauen und alte Leute lebten. Auch unser Haus hätte einige Treffer abbekommen. Alle Dorfbewohner waren der Meinung, dass eine göttliche Vorsehung uns wohl gesonnen war.

      Es war kalt im Siegerland. Nicht nur die gestauten Gewässer, auch der Fluss und die Bäche waren zugefroren. Wir Jungen und Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren konnten dort Schlittschuhlaufen und Fußball spielen. Auch die noch bleihaltigen Wasserleitungen im Haus mussten an den bekannten Stellen angewärmt werden, damit Mutter waschen und kochen konnte.

      Aber viel größer war die Sorge um die 87 Fischbacher Männer, welche jetzt, Weihnachten 1943 in dem noch kälteren Russland im Einsatz waren. Vorige Woche erfuhren wir, dass viele aus unserem Dorf in Stalingrad an der Front waren. Es war genau diese Stadt in Russland, welche in offiziellen Wochenschauen von siegreichen deutschen Soldaten die Rede ist. Nur noch Tage, dann ist Stalingrad in deutscher Hand. So oder ähnliche Parolen wurden auch uns Schulkindern eingehämmert, und diese prägten sich in unsere Köpfe ein. Im nur noch knappen Schulunterricht wurde von Lehrer Finke die damalige Situation erklärt und erleuchtet, natürlich im Sinne der Nazis. In Wirklichkeit war alles anders. Einige aus dem Ort hatten den verbotenen englischen Radiosender abgehört und wir wussten daher, dass dort viele deutsche und russische Landser im eiskalten russischen Winter ihr Leben lassen mussten. Wir konnten uns nun vorstellen, dass dort jetzt in der Weihnachtszeit manche Träne floss und das Heimweh sehr groß war. Aber wir wussten nicht, ob noch alle gesund oder am Leben waren. Aus unserm Freundeskreis kannten wir drei junge Soldaten persönlich, Gerold Müller, Hermann Helbach und Hubert Schmidt. Viele schöne Gelände – und Ballspiele habe ich noch selbst mit ihnen erlebt. Aber jetzt hatten wir Angst dass ihnen etwas zustoßen könnte. Ich traf die Mutter von Gerold Müller, sie sagte: auch ich habe von Gerold seit acht Wochen nichts gehört, „und sie machte ein sehr sorgenvolles Gesicht. Wir wussten, dass unsere drei Freunde zähe Fischbacher Gewächse waren, mit Kälte konnten sie einigermaßen umgehen, aber längere Zeit ohne warme Stube und mit wenig Essen, das war für uns unvorstellbar. Wir waren unruhig, da wir so lange nichts von ihnen gehört hatten. Beim Abschied am Bahnhof vor einem Jahr waren alle guter Dinge und sie haben uns noch lachend nachgewunken. Hermann war groß und dünn, wir nannten ihn immer lange Latte. Hubert war zäh und ausdauernd, er hatte immer das beste Zeugnis. Gerold war ein gemütlicher, humorvoller Junge, er war für uns der Dicke.

      Jetzt wollte auch noch die Gestapo wissen, wovon unser Pfarrer denn überhaupt lebt. Immerhin war dieser politisch vorbestraft und bekam deshalb kein staatliches Gehalt mehr. Mein Freund Toni wusste das alles ganz genau, denn sein Vater war der Kirchenrechner. Die gesamten Kollekten mussten auf Heller und Pfennig abgerechnet werden. Auf keinen Fall durfte für unsern Pastor etwas übrigbleiben. Nur die wenigen Kühe, Schweine und Hühner von der Bevölkerung haben unsern Pfarrer nicht verhungern lassen.

      Am Weihnachtsabend lag eine gedrückte Stimmung über dem Dorf. Nur die Mitternachtsmette in unserem Siegerländer Dom war voll bis auf den letzten Platz.

      Am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien kam Lehrer Erwin Finke wieder in SA-Uniform in die Klasse. Er war noch der einzige Lehrer im Unterrichtssystem. Alle andern waren Lehrerinnen oder Hilfskräfte. Wenn Finke dann in der pickfeinen Uniform vor der Klasse stand, hatten wir alle großen Respekt vor ihm. Wir schmetterten den „Heil Hitler Gruß“, dass dieser noch weit draußen zu hören war.

      Aber er kam auch manchmal in Zivil in die Klasse. Er war klein hatte aber eine laute Stimme. Mein Freund Günter nannte ihn Glatzkopf, und er flüsterte mir ins Ohr "Erwin ist nur ein kleines Würstchen". Bald kamen in den offiziellen Nachrichten manchmal nicht nur gute Nachrichten ans Licht.

      Die Stimmung fiel auf den Nullpunkt. Hinter mir saß Theo Preußer auf der Schulbank, er wollte anscheinend etwas ganz genau wissen. Seine Zischlaute lagen mir immer laut in den Ohren.

      Ich merkte, dass Lehrer Finke ihn absichtlich nicht beachtete, aber die Zischelei ging ihm anscheinend doch auf die Nerven. „Preußer, was gibt’s“, fragte Herr Funke schlecht gelaunt. „Herr Lehrer, Stalingrad ist gefallen“, sagte mein Hintermann in einem etwas triumphierenden Ton. Alle lauerten.

      Was passiert jetzt? Preußer hatte das geschafft, was noch keinem von uns gelungen war. Der Lehrer brauchte zwei Minuten bis er sich wieder gefangen hatte.

      Für ihn war das sicher keine Neuigkeit, aber das der Schüler die schlechte Nachricht einfach so in der Klasse daher sagte, das wurmte ihn gewaltig. Aber dann ging es los, seine Stimme überschlug sich und die Lautstärke kam voll zur Geltung.

      Diese Meldung dürfe auf keinen Fall in diesem negativen Ton vorgetragen werden, und der Führer würde trotzdem andere Siege aus Russland vermelden. Ab dem Zeitpunkt wurden die bisher guten Noten deutlich schlechter.

      Eine Woche später kam unser Lehrer mit einem großen, neuen Bild ins Klassenzimmer. Dort war ein gefallener Soldat abgebildet, welcher noch im Tod die deutsche Fahne festhält. Darunter der Spruch: Die Fahne muss stehen, wenn der Mann auch fällt. Jedes Mal nach der letzten Schulstunde mussten wir diesen Spruch laut und deutlich wiederholen.

      Der Krieg ging zu Ende. Meine Freunde Gerold Müller, Hermann Helbach und Hubert Selscheid kamen nicht mehr nach Hause.

      Von Lehrer Finke haben wir nie mehr etwas gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört.

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