Nataschas Winter. Susanne Scholl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Scholl
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783945961582
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sie auch froh darüber, nicht zu wissen, was jenseits des Waldes vor sich geht.

      Ganz still, ganz unbemerkt sind sie alt geworden, Pelageja Iwanowna und ihre Nachbarinnen. Ganz still und unbemerkt ist das Geld, das sie von der Kolchose bekommen haben, immer weniger geworden. Irgendwann hat sich die Kolchose in Genossenschaft umbenannt, aber auch da haben sie keine Änderung bemerkt. Ganz still und fast unbemerkt sind die Jungen weggegangen und die Männer nach und nach weggestorben. Ganz allmählich haben sie aufgehört, die Holzlöffel, Holzschatullen und Holzpuppen zu bemalen.

      Pelageja Iwanowna hat nie Löffel oder Schatullen bemalt. Sie war die Lehrerin. Die Nachbarinnen, die beherrschten die Kunst der Holzmalerei. Jede von ihnen hat sie von ihrer Mutter gelernt. So wie die Männer vom Vater die Kunst gelernt haben, aus dem Holz der Birken Löffel, Schatullen und Puppen zu schnitzen. Die immer gleichen Formen mit der immer gleichen Bemalung. Nur die Frauen im Dorf konnten nach einem flüchtigen Blick sagen, aus welchem Haus welcher Löffel, welche Schatulle, welche Puppe kam.

      Jede Frau hat die Kunst an die Tochter weitergegeben, jeder Mann an den Sohn.

      Jetzt aber arbeiten die Söhne und Töchter in den Fabriken der Stadt und die Kunst, dem Löffel, der Schatulle oder der Puppe die eine oder die andere Blume mit der einen oder der anderen Farbe aufzumalen, wird nicht mehr weitervererbt.

      Die letzten Schatullen, Puppen und Löffel, die sie noch selbst bemalt haben, schmücken jetzt die Bretter vor den kleinen Fensterchen, so dass man, wenn man durch das Dorf spaziert, an vielen bunten, hölzernen Erinnerungsstücken vorbeigeht, die ganz langsam verblassen.

      Nur bei Pelageja Iwanowna stehen keine bunten Holzschatullen oder Puppen im Fenster. Und das tut ihr jetzt manchmal ein bisschen Leid. Aber eine von der Nachbarin als Geschenk annehmen, das würde die Lehrerin nie.

      »Na ja, früher, da war viel los hier«, sagt Pelageja Iwanowna, aber es klingt gar nicht traurig. »Seit zwanzig Jahren versprechen sie uns eine Straße bis hierher«, sagt Pelageja Iwanowna auch. Und auch das klingt nicht traurig. Wer will die Straße schon? Ein Krankenwagen wäre dann schneller zur Stelle, wenn eine der Alten ihn brauchen sollte – aber keine der Alten will den Krankenwagen.

      »Die Straße – die brächte dem Dorf viel«. Sagen die, die im Nachbardorf leben, direkt an der Hauptstraße.

      »Viel, was uns bisher erspart geblieben ist«, sagt Pelageja Iwanowna.

      Und die vier Kilometer durch den Wald, wenn im Dorf einmal der Zucker, das Salz, die Seife ausgegangen sind?

      »Wir haben ja Vorräte – einmal alle paar Monate kann man den Spaziergang schon machen«, sagen die Alten und zucken mit den Schultern.

      »Schön findet ihr es hier bei uns?«, fragt Pelageja Iwanowna die Besucher von jenseits des Waldes und zeigt dann ein bisschen geniert und amüsiert zugleich durch das kleine halb blinde Stubenfenster hinaus auf ihren Innenhof.

      Im Sommer, wenn der Regen ununterbrochen fällt, versinkt er im Morast. Im Winter, wenn Frost und Schnee kommen, wird er spiegelblank vom Eis. Und ganz hinten in der Ecke steht ein windschiefes Holzhäuschen mit einer ebenso windschiefen Tür.

      Auf das zeigt Pelageja Iwanowna, die frühere Lehrerin, geniert und amüsiert, wenn ihr die Besucher von jenseits des Waldes die Ruhe und die Schönheit der Landschaft rund um das Dorf vorloben.

      »Schön?«, fragt Pelageja Iwanowna und sucht eine Antwort. »Schön ist Maria aus Brasilien. Wir hier, wir sind nur weit weg von allem.«

      Wenn die Gäste von jenseits des Waldes nach ein paar Tagen wieder abreisen, gut verpackt gegen den Regen und mit einem Mann, der von den Frauen nüchtern gehalten wurde, damit er den Pferdewagen sicher durch die tiefen Wasserlachen im Wald kutschiert, steht Pelageja Iwanowna am Abhang.

      Mit ihr stehen die Nachbarinnen.

      Ein bisschen wehmütig werden sie, wenn wieder jemand weggeht, der wahrscheinlich nicht mehr zurückkommt. Ein bisschen verloren sehen sie aus, im Regen auf der Wiese.

      »Und gebt dem Kerl auf dem Wagen ja kein Geld! Sonst betrinkt er sich, bevor er das Pferd zurück gebracht hat«, ruft Pelageja Iwanowna, als der Wagen schon fast in den Wald eingetaucht ist, und winkt dann, bis sie ihn zwischen den Bäumen endgültig aus den Augen verliert.

      Noch hundert Kilometer bis Petersburg.

      Adlerauge und die Kartenleserin rumoren im Auto herum. Die aus Moskau mitgebrachten Kirschen sind längst aufgegessen, die Dosen mit den süßen Getränken leer.

      »Nicht wegschmeißen«, sagt Adlerauge. Schließlich stünden die weltweit bekannten Namen auf diesen speziellen, in Moskau gekauften Dosen in zyrillischen Buchstaben. Eine Erinnerung, die man nicht wegwerfen dürfe.

      Aber etwas von ihrer Trauer darüber, dass die Arbeit ihrer Mutter sie zwingt, das Land zu verlassen, in dem sie sich sechs Jahre lang irgendwie zu Hause gefühlt haben, ist Adlerauge und der Kartenleserin inzwischen abhanden gekommen. Vielleicht, weil die Fahrt schon so lange dauert, vielleicht, weil sie jetzt doch so etwas wie Neugierde empfinden angesichts einer Stadt, in der ich einmal gelebt habe und die sie selbst zum ersten Mal sehen werden.

      Sicherlich aber haben sie genug vom Auto und von der Landstraße, deren Umgebung sich seit Moskau nicht sehr verändert hat.

      Und dann bemerke ich, dass unser Benzin knapp wird. Adlerauge muss also Ausschau halten. Die erste Tankstelle, der wir begegnen, sieht gut aus, ist aber geschlossen.

      »Wie kann das sein?«, fragt die Kartenleserin, die mit dem Auto bisher nur in Gegenden unterwegs war, in denen man alle paar Kilometer Benzin kaufen konnte, so viel man nur wollte.

      »Na ja«, sage ich noch ziemlich unaufgeregt, »wahrscheinlich hat man ihnen heute kein Benzin geliefert.«

      Noch fährt das Auto, auch wenn es immer deutlicher zu verstehen gibt, dass es bald aufgefüllt werden sollte.

      Adlerauge hält weiter Ausschau, und auch die Kartenleserin hält den Blick starr auf den Straßenrand gerichtet, um die nächste Möglichkeit nicht zu übersehen. Wieder entdecken wir ein Schild und biegen von der Straße ab.

      Drei rostige Tanksäulen stehen vor einem kleinen Betonhäuschen, dessen Fenster, hinter dem sich tatsächlich jemand aufhält, dicht vergittert ist.

      »Die ist offen«, sagt die Kartenleserin erfreut.

      Ich steige aus und frage beim vergitterten Fensterchen, aber die junge, bleiche und leicht ungehaltene Person dahinter gibt mir kurzerhand zu verstehen, dass sie jenes Benzin, das mein Auto benötigt, nicht anzubieten hätte.

      Etwas betreten kehre ich zum Auto zurück, und Adlerauge und die Kartenleserin sehen mich entsetzt an, als ich den Wagen wieder starte und davonfahre.

      »Was war denn jetzt los?«, fragt die Kartenleserin.

      »Nicht das richtige Benzin«, sage ich und versuche, Haltung zu bewahren. Obwohl ich bereits überlege, wie weit wir wohl noch kommen werden und woher wir Hilfe bekommen könnten, falls wir hier, mitten in Russland auf einer – wie ich jetzt plötzlich feststelle – doch einigermaßen einsamen Landstraße, stranden sollten.

      Adlerauge und die Kartenleserin scheinen Ähnliches in ihren Köpfen herumzuwälzen, denn plötzlich fragen sie mich sehr genau nach unserem Auto aus, und wie viel Benzin es denn eigentlich verbrauche und ob wir vielleicht doch noch bis Petersburg kämen.

      Ich weiß es nicht, und das Auto macht mir wenig Mut. Die Benzinanzeige leuchtet ununterbrochen hellgelb, aber noch bewegen wir uns weiter.

      »Da – vorne!«, schreit Adlerauge, aber nach den bisherigen Erfahrungen wage ich es noch nicht, erleichtert aufzuatmen.

      Wieder drei rostige Tanksäulen, wieder ein fest vergittertes Fensterchen, und dahinter eine etwas ältere, darum aber nicht freundlichere Person.

      Ja, sie hätte jenes Benzin, das ich benötige, sagt sie mürrisch – und ich atme erleichtert